
Nordrhein-Westfalen Wie Talsperren vor Hochwasser schützen und Wasser bei Dürre liefern
In den vergangenen Wochen war es sehr trocken in NRW. Welche Rolle spielen Talsperren im Wasserkreislauf in NRW, und warum kommt ihnen in der Katastrophenhilfe eine immer entscheidendere Rolle zu? Hier gibt es Hintergründe und aktuelle Füllstände.
Mehr als 70 Talsperren und Stauseen gibt es in Nordrhein-Westfalen. So viele wie in keinem anderen Bundesland. Nirgendwo sonst sind die Wasserreservoire so bedeutsam für die Wasserversorgung - in Zeiten des Klimawandels mehr denn je.
Dabei sind die Wassermassen durch Extremwetterereignisse immer schwieriger zu steuern. "Der Klimawandel ist längst in NRW angekommen, die Talsperren geraten immer häufiger an ihre Belastungsgrenze", sagt der Hydrologe Alexander Löcke.
Wie funktioniert die Steuerung des Wassers durch die Talsperren genau? Welche Vorkehrungen und Pläne gibt es, um dem Klimawandel zu begegnen? Wie viel Wasser speichern die Talsperren aktuell und wie hat sich das in den vergangenen Wochen und Monaten verändert? Hier gibt es den Überblick mit live aktualisierten Grafiken.
Darum geht es in diesem Beitrag:
- Welche Aufgaben erfüllen die Talsperren in NRW?
- Wie voll sind die großen Talsperren in NRW?
- Wie und von wem wird das System der Talsperren gesteuert?
- Wann wird Wasser abgegeben oder gestaut?
- Was ändert sich durch den Klimawandel?
- Hochwassergefahr: Wie und wann werden Talsperren-Betreiber aktiv?
- Was wird während langer trockener Phasen gemacht?
- Ist die Trinkwasserversorgung durch Dürresommer gefährdet?
Welche Aufgaben erfüllen die Talsperren in NRW?
Die drei Hauptaufgaben der Talsperren sind:
- Der Hochwasserschutz: Bei langanhaltenden und großflächigen Regenfällen stauen sie das Wasser, entlasten so die Flusspegel und können Überschwemmungen verhindern oder abmildern.
- Die Dürrehilfe: Wenn es lange nicht regnet, sinken die Wasserpegel der Flüsse kontinuierlich ab. Aus den Talsperren wird dann gesammeltes Wasser in die Flüsse abgegeben. Das ist nicht nur für die Wasserversorgung der Landwirtschaft und Industrie entscheidend, sondern auch für verschiedene Ökosysteme. Man spricht auch von Niedrigwasseraufhöhung.
- Die Trinkwasserversorgung: Gerade in NRW sind die Talsperren für die Versorgung mit Trinkwasser elementar. Aus mehr als 20 Talsperren wird gespeichertes Wasser über Wasserwerke als Trinkwasser aufbereitet und durch Versorgungsleitungen in die Städte gebracht. Rund die Hälfte aller Menschen in NRW bekommt ihr Hahnenwasser zum Teil direkt aus den Talsperren oder indirekt über die Aufbereitung aus Flüssen.
Auch für die Energieerzeugung durch Wasserkraft werden rund die Hälfte aller Talsperren genutzt. Zudem dienen die Seen, die an Talsperren entstehen, als Freizeit- und Erholungsorte.
Wie voll sind die größten Talsperren in NRW?
Die größten Staubecken in NRW haben die Rurtalsperre in der Eifel (200 Millionen Kubikmeter Wasser), die Biggetalsperre und Möhnetalsperre im Ruhrtal (170 und 135 Millionen Kubikmeter), sowie die Große Dhünntalsperre im Bergischen Land (72 Millionen Kubikmeter).
Wichtige zusammenhängende Talsperrennetze finden sich im Ruhrtal, in der Eifel, im südlichen Sauerland und Siegerland sowie im Bergischen Land. Je nach Region gibt es unterschiedlich viele direkte Trinkwasser-Talsperren oder solche, die die Pegel der Flüsse Ruhr, Rur, Agger und Wupper steuern - und so auch indirekt zur Trinkwasserversorgung betragen können.
Wie voll die jeweiligen Talsperren gerade sind, zeigt die nachfolgende Grafik.
Wie und von wem wird das System der Talsperren gesteuert?
Verschiedene Wasserverbände und Wasserversorger agieren als Betreiber der Talsperren. Unter Aufsicht der Bezirksregierungen übernehmen sie öffentliche Aufgaben, verdienen mit der Bereitstellung von Wasser aber auch Geld.
Die Betreiber mit den größten Wasserspeichern beaufsichtigen zusammen gigantische Staukapazitäten von mehr als 1,2 Milliarden Kubikmetern Wasser:
- Ruhrverband: Steuerung des Ruhrpegels, Wasserversorgung des Ruhrgebiets
- Wupperverband: Steuerung des Wupperpegels, Versorgung von Städten im Bergischen Land,
- Wasserverband Eifel-Rur: Steuerung des Rurpegels, Versorgung der Regionen Aachen und Düren
- Aggerverband und Wahnbachtalsperren-Verband: Wassersystem im Siegerland und Sauerland
- Wasserversorger Gelsenwasser: Versorgung von Teilen des Ruhrgebiets und Ostwestfalens
Bei einigen älteren Talsperren wird das Wasser mithilfe eines Damms gestaut, die meisten anderen Talsperren besitzen eine bogenförmig gebaute Staumauer.
Am Fuße von Staumauern befinden in der Regel größere Kanäle mit Ventilen, die geöffnet und geschlossen werden können, um kontrolliert Wasser an den unteren Flusslauf abzugeben. Über Sensoren und Messstellen wird überwacht, wie sich das auf den Flusspegelstand auswirkt.
Bei Hochwassergefahr sei wichtig, dass die Sperren nicht überlaufen, so Hydrologe Alexander Löcke, denn das könne im schlimmsten Fall zu einem Dammbruch führen. Bei Staumauern sind zur Hochwasserentlastung Öffnungen am oberen Ende vorgesehen, bei Staudämmen wird das Wasser über eine seitliche Rinne abgelassen.
Wann wird Wasser abgegeben oder gestaut?
Bisher haben sich die Betreiber der Talsperren an saisonale Pläne gehalten. Für jede Talsperre sind verschiedene Stauziele definiert. Unterschieden wird vor allem zwischen zwei Saisons: Sommer und Winter. Hydrologe Löcke sagt: "Schnee spielt im Winter in NRW eher eine untergeordnete Rolle. Ein typisches Winterereignis ist Dauerregen, häufig um die Weihnachtszeit."
Ab dem Spätsommer lassen die Wasserverbände deshalb gezielt Wasser aus ihren Talsperren abfließen, um für die regenreichen Wintermonate genügend Stauraum zu bewahren - sogenannte Hochwasserschutzräume. "Von Anfang November bis Ende Januar sollen die Staubecken nur zwischen 60 und 90 Prozent gefüllt sein. So sind wir auf mögliche Dauerregenlagen vorbereitet. Danach stauen wir bis Mai die Talsperren langsam wieder auf", erklärt Löcke.
Aggerverband und Wasserverband Eifel-Rur senken die Füllstände ihrer Talsperren in der Wintersaison sogar durchschnittlich auf unter 70 Prozent ab. Wie groß die Hochwasserschutzräume der einzelnen Talsperren sind, hat häufig auch damit zu tun, wie schnell sie sich über ihre Zuflüsse wieder füllen können.
Denn vor allem in trockenen Sommer wird mehr gestautes Wasser benötigt, um niedrige Flusspegel zu erhöhen und die Menschen mit Trinkwasser zu versorgen. Dann sollen die Staubecken um mehr als 90 Prozent gefüllt sein. Zumindest war das bisher immer so.
Was ändert sich durch den Klimawandel?
Im Sommer trocken, im Winter viel Regen - darauf könne man sich nicht mehr verlassen, betont Löcke: "Vor 2021 hatten wir kaum Hochwasserschutz in den Sommermonaten". Doch im Juli 2021 änderte sich alles. Massive Regenfälle sorgten überall in Westdeutschland für Hochwasser. Die Flutkatastrophe im Ahrtal war international in den Nachrichten. Aber auch Wuppertal wurde von den Wassermassen schwer getroffen.
Typischer Starkregen sei meist auf ein kleines Gebiet begrenzt und daher ungefährlicher. "Kritisch wird es, wenn sich Starkregen mit großflächigem Dauerregen vermischt", sagt der Hydrologe, und das passiere in den vergangenen Jahren immer häufiger.
Daraus will der Wupperverband lernen. Deshalb werden in vier Talsperren nun auch während der Sommermonate Hochwasserschutzräume von 5,5 Millionen Kubikmetern freigehalten, gegenüber 23,5 Millionen im Winter.
Staukapazitäten zurückhalten, aber genügend Wasser für die Versorgung bei Dürre bereithalten: "Diese beiden Ziele müssen wir irgendwie unter einen Hut kriegen - die Quadratur des Kreises", sagt Hydrologe Löcke vom Wupperverband.
Mit Bereitschaftsdiensten wollen die Wasserverbände in Zukunft schneller reagieren können. Auch der Informationsaustausch mit den Kommunen soll sich verbessern. Überschrittene Pegel- und Abgabeschwellen werden automatisch gemeldet; zwischen den Feuerwehren in Wuppertal und Solingen und dem Wupperverband gibt es ein Notfalltelefon; im Ernstfall schaltet der Bereitschaftsdienst auch einen Videokanal, in den sich Katastrophenschützer einwählen können.
Hochwassergefahr: Wie und wann werden Talsperren-Betreiber aktiv?
Der Ernstfall tritt ein, wenn die Wettermodelle des Deutschen Wetterdienstes für das Einzugsgebiet eine rote Warnstufe ausgeben. Das ist mit prognostizierten Regenfällen von mehr als 40 Litern pro Quadratmeter in einer Stunde oder 60 Litern pro Quadratmeter in sechs Stunden verbunden.
Dann müssen die Talsperren-Betreiber die Regenfälle sozusagen übersetzen. Vor einigen Jahren noch sei die Belastung der Flüsse und Talsperren über Erfahrungswerte abgeschätzt worden, mittlerweile arbeite man computergestützten Modellen, sei in der Lage, Zuflussmengen durch Niederschläge über zwei Tage im Voraus zu simulieren. Dabei werden auch die Umweltfaktoren wie die Bodenfeuchte miteinbezogen, so Löcke.

Alexander Löcke arbeitet als Hydrologe für den Wupperverband.
Auf Grundlage dieser Prognosen müssen die Hydrologen konkrete Vorschläge für die Steuerung der Talsperren treffen, erklärt Löcke: Die verschiedenen Talsperren müsse man sich als komplexes zusammenhängendes System vorstellen. Allein am Verlauf der Wupper steuern acht Talsperren den Pegel, wie unsere Karte zeigt.
Wenn bei den beiden kleinen, die Wupper aufwärts liegenden Talsperren (Brucher und Lingesetalsperre) bestimmte Schwellenwerte beim Wasserzufluss überschritten würden, werde dort sofort stärker gestaut und der Abfluss reduziert, die Wasserbelastung nach und nach über die verschiedenen Talsperren verteilt.
Was wird während langer trockener Phasen gemacht?
Diejenigen Talsperren, die den Flusspegel steuern sollen, müssen so viel Wasser abgeben, dass eine Mindesthöhe erreicht wird.
Gehen die Wasservorräte in der großen Wuppertalsperre beispielweise langam zur Neige, wird aus den flussaufwärts gelegenen Talsperren Wasser nachverteilt. Die vier Talsperren des sogenannten Bever Blocks sind sogar unterirdisch über einen Stollen miteinander verbunden, um unabhängig vom Flusslauf Wasser verteilen zu können.
Zu besonders langanhaltender Trockenheit kam es zuletzt 2018, 2019 und vor allem 2022. Nicht nur der Wupperverband, auch der Ruhrverband beantragte mehrfach Ausnahmegenehmigungen, um die Pegel von Ruhr und Wupper temporär abzusenken. Es bestand die Sorge, die Menschen im Spätsommer nicht mehr mit Wasser versorgen zu können.
Im April hat das Landesumweltministerium eine Entwurf für ein neues Ruhrverbandsgesetz vorgelegt, das dem Ruhrverband dauerhaft erlauben soll, den Mindestpegel künftig flexibel herabzusenken, wenn es die klimatischen Bedingungen rechtfertigen. Zum Ausgleich soll das Ruhrwasser in Kläranlagen besser gefiltert werden und die Laichzeit von Fischen unberührt bleiben. Denn darum geht es beim Mindestpegel: Den Fluss als Lebensraum für die Tierwelt erhalten.
Auch beim Wupperverband wünschen sie sich mehr "Flexibilität, um uns resilienter gegen den Klimawandel aufzustellen", so Löcke. Untersuchungen zeigten, dass sich ein niedrigerer Flusspegel nicht negativ auf den Ökokreislauf auswirken würde. Der Wupperverband habe bei der Bezirksregierung Düsseldorf beantragt, angepasste Regeln in den Betriebsplänen festschreiben zu dürfen.
"Wir würden im Sinne des Hochwasserschutzes im Sommer künftig also weniger Wasser stauen, müssten aber bei Trockenheit auch weniger abgeben", erklärt Löcke.
Ist die Trinkwasserversorgung durch Dürresommer gefährdet?
Im Bergischen Land ist das jedenfalls ein Thema, weil hier die meisten Kommunen ihr Trinkwasser aus der Großen Dhünntalsperre beziehen. Für alle sind bestimmte jährliche Trinkwasser-Kontingente vorgesehen. 2015 und 2020 musste der Wupperverband diese Kontingente wegen bedrohlich absinkender Füllstände reduzieren.
Einige Kommunen haben sich deshalb zusätzliche alternative Trinkwasserquellen gesucht. Die Stadtwerke Remscheid sind gerade dabei, das 2005 stillgelegte Wasserwerk mit Versorgungsleitungen an der Eschbachtalsperre zu reaktivieren. Bis zu 40 Prozent der Remscheider Haushalte sollen darüber ab 2025 bei Dürre versorgt werden können.
Die 20 Kilometer vom Stadtgebiet entfernte Kerspetalsperre versorgt das komplette östliche Stadtgebiet von Wuppertal mit Trinkwasser, die Versorgungsleitung zu einem stadtnahen Wasserwerk hat die Stadt vor einigen Jahren sanieren lassen. Auch Solingen bezieht ein Drittel seines Trinkwassers aus der eigenen Sengbachtalsperre.
In der Eifel wurde nun gerade sogar eine länderübergreifende Versorgungsleitung zwischen der Oleftalsperre in NRW und der Riveris-Talsperre in Rheinland-Pfalz in Betrieb genommen. Wer bei Dürre genügend Wasser hat, gibt per KI-Steuerung automatisch Wasser an den Nachbarn ab.
Unsere Quellen: