
Nordrhein-Westfalen Jugendgewalt: Auch Mädchen schlagen immer öfter zu
Seit Ende der Corona-Pandemie ist die Gewalt unter Jugendlichen an Schulen in NRW gestiegen - besonders bei Mädchen. Das ist das Ergebnis einer "Dunkelfeld"-Studie.
Laut der Studie ist die Gewalt unter Jugendlichen in der siebten Klasse von knapp 20 auf knapp 26 Prozent angestiegen. Über die Gründe sprachen wir mit dem Soziologen Clemens Kroneberg, einem der Autoren der Studie.
WDR: Sie haben sich lange mit Gewalt bei Jugendlichen beschäftigt. Wie groß sind Ihre Sorgen dadurch?
Clemens Kroneberg: Persönlich sind meine Sorgen relativ begrenzt, weil man sich in der meisten Zeit nicht Sorgen machen muss, Opfer von Delikten zu werden. Aber insgesamt ist die Entwicklung schon derart stark, dass man sich gesellschaftlich und politisch um das Thema Jugendkriminalität auf jeden Fall kümmern muss.
WDR: Laut Ihrer Studie ist die Gewalt in der siebten Klasse von knapp 20 auf knapp 26 Prozent gestiegen. Das ist ja schon besorgniserregend.

Prof. Dr. Clemens Kroneberg
Kroneberg: Genau. Für die Politik und für uns als Gesellschaft ist das etwas, das wir ernst nehmen müssen. Das hat gerade unsere Studie gezeigt. Bisher hatten wir nur solche Hinweise aus der polizeilichen Kriminalstatistik. Und die hat eben nicht die gleiche Aussagekraft wie so eine sogenannte Dunkelfellstudie.
In der Tat sehen wir, dass vor knapp zehn Jahren etwa jeder vierte Jugendliche im letzten Jahr ein Delikt oder mehr begangen hatte. Und jetzt ist es jeder dritte. Der Anstieg ist auf jeden Fall deutlich. Und das ist natürlich politisch auch Grund zur Sorge.
WDR: Gewaltdelikte haben besonders bei Mädchen zugenommen. Was genau haben Sie da herausgefunden?
Kroneberg: Bei Mädchen verzeichnen wir einen stärkeren Anstieg als bei Jungen. Insgesamt ist es immer noch so, dass Jungen eher zu Delikten und gerade auch zu Gewalt neigen. An dem Unterschied ändert sich also gar nichts, aber er wird geringer. Mädchen berichten heute häufiger von Gewalt.
Teilweise sind die Steigerungsraten da bei 50 Prozent. Und interessanterweise findet man das auch in der polizeilichen Kriminalstatistik. Da gibt es auch eine starke Übereinstimmung mit unseren Ergebnissen.
WDR: Gibt es dafür Gründe?
Kroneberg: Wir müssen den Zusammenhängen erst noch weiter nachgehen. Aber wichtig ist erstmal, dass diese Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen eben kein Naturgesetz sind. Die können sich durchaus ändern über die Zeit. Und natürlich haben sich auch die Bedingungen, unter den Jungen und Mädchen aufwachsen, stark verändert in den letzten zehn Jahren.
Wir wissen, dass Mädchen schon immer anderen sozialen Erwartungen unterliegen als Jungen. Wenn ein Junge sich mal schlägt, kann man sagen: "Das ist ein Stück weit normal, der muss lernen, sich zu kontrollieren." Mädchen werden da häufig anders bewertet. Aber das sind alles Einflüsse von Erziehern, von Eltern, von Lehrern.
Heutzutage ist es so, dass diese Erwachsenen noch weniger Einfluss auf die Jugendlichen haben als schon früher - einerseits durch die Gleichaltrigen, aber natürlich auch vermehrt durch Social Media. Da wissen wir, dass Mädchen sehr viel aktiver und auch beeinflussbarer sind.
WDR: Kinder und Jugendliche machen sich viele Sorgen um die Zukunft, um Krieg oder auch Klimawandel. Kann das ein Grund sein für Kriminalität und Gewalt?
Kroneberg: Wir haben gefragt nach Sorgen in Bezug auf eigene Berufsaussichten. Das ist natürlich etwas spezifischer, als Sorgen ganz allgemein. Aber selbst da sieht man, dass in den Städten, in denen wir die Befragung gemacht haben, in denen auch die Arbeitsplatzaussichten objektiv gesehen schlechter sind als ansonsten in NRW, dass selbst dort eigentlich eine Minderheit sich düsterere Sorgen macht als noch vor zehn Jahren. Es ist also eine relativ kleine Gruppe, die noch mal deutlich eingetrübtere Zukunftsaussichten hat, was ihren Beruf angeht.
Und interessanterweise ist es so, dass die allermeisten, die Gewaltdelikte berichten, sich keine negativen Gedanken machen über ihre berufliche Zukunft. Insofern lässt sich es eben nicht einfach nur auf diesen Faktor zurückführen.
WDR: Was müsste geschehen, um Kriminalität und Gewalt bei Jugendlichen weniger wahrscheinlich zu machen? Kann man das aus Ihrer Studie ablesen?
Kroneberg: Auf jeden Fall, so denke ich, gibt es Grund zur Sorge. Historisch betrachtet sind wir immer noch auf einem relativ niedrigen Niveau. Aber man hat eine gewisse Trendumkehr, die man beobachtet. Insofern ist es beides: Einerseits sollten wir es nicht zu drastisch beschreiben, aber wir sollten es ernst nehmen. Und auch überlegen, was getan werden kann.
Eine Maßnahme, die unsere Analysen nahelegen, ist auf jeden Fall die vermehrte Stärkung der sozialen und emotionalen Kompetenzen von Jugendlichen
WDR: Wie genau?
Kroneberg: Da gibt es beispielsweise Trainings. Das Schulministerium hat beschlossen, das Programm "MindOut" bei mehreren Schulen auch zur Anwendung zu bringen. Das ist was, was auf jeden Fall auch von unseren Ergebnissen unterstützt wird.
Das Interview führte Benjamin Sartory für den WDR 5-Westblick. Für die Online-Version wurde das Gespräch sprachlich etwas angepasst.