Lars Klingbeil, Saskia Esken, Boris Pistorius und andere SPD-Spitzen werben auf einer Regionalkonferenz in Hannover für den Koalitionsvertrag mit der Union

Koalitionsvertrag mit Union SPD-Spitzen auf Werbetour - Abstimmung startet

Stand: 15.04.2025 05:34 Uhr

Jetzt zählt's in der SPD: Ab heute können die Mitglieder über den Koalitionsvertrag mit der Union abstimmen. Zwei Wochen haben die Parteispitzen Zeit, die Genossen zu überzeugen. Viele an der Basis sehen die SPD in einem Dilemma.

Von Kerstin Palzer und Jonas Helm, ARD-Hauptstadtstudio

Für Hibba Kauser ist die Sache klar. "Ich kann diesem Koalitionsvertrag nicht zustimmen, der steht komplett gegen meine Grundüberzeugungen." Am vergangenen Mittwoch haben die Parteispitzen von SPD und Union den Koalitionsvertrag in Berlin vorgestellt. Noch am selben Abend sitzt in Offenbach eine Gruppe Jusos im örtlichen Parteibüro zusammen und sucht nach der SPD-Handschrift in dem Papier.

"'Wir werden irreguläre Migration eindämmen'. Das ist AfD-Sprech", sagt Hibba Kauser, während sie auf ihrem Tablet durch den Vertrag scrollt. Sie ist seit ihrer Jugend Mitglied bei den Jusos in Offenbach, sitzt im Vorstand des SPD-Ortsvereins. Vor allem die Vereinbarungen zum Thema Migration findet Kauser falsch.

Offenbacher Jusos fehlt das Thema Gerechtigkeit

Die Offenbacherin ist in einer Geflüchtetenunterkunft in Brandenburg aufgewachsen, jahrelang drohte ihrer Familie die Abschiebung. "Ich weiß, wie es ist, zwei geflüchtete Eltern zu haben. Ich weiß, wie sich Angst vor Abschiebung anfühlt", so Kauser.

Auch das SPD-Kernthema Gerechtigkeit kommt vielen Jusos in Offenbach zu kurz. "Die Vermögensteuer habe ich beim Suchen im Vertrag nicht gefunden. Also der Versuch, auch alle im Land gerecht zu beteiligen", sagt Andre Veit. Er hat sich noch nicht entschieden, ob er dem Koalitionsvertrag zustimmen wird.

Jusos lehnen Koalitionsvertrag ab

Juso-Chef Philipp Türmer hat dagegen mittlerweile klar gemacht: Die Parteijungend lehnt den Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union ab. "Die Einigung geht in den Bereichen Asyl, Arbeit und Soziales einen falschen Weg und ist bei Steuern und Finanzen zu ambitionslos", so Türmer.

Die Ablehnung des Koalitionsvertrags durch die Jusos kommt nicht wirklich überraschend. Union und SPD wollen die Asylpolitik verschärfen, bei Sozialausgaben soll gekürzt werden. Türmer hatte in diesen Bereichen während der Koalitionsverhandlungen immer wieder die roten Linien der SPD-Parteijugend klar gemacht.

Eine europarechtswidrige Zurückweisung von Asylbewerbern an der Grenze und eine Aushöhlung des Sozialstaats - das sei mit den Jusos nicht zu machen. Ein kleines Schlupfloch lässt Türmer aber offen: Er fordert "Nachbesserungen", damit die Jusos dem Koalitionsvertrag doch noch zustimmen.

Auftakt der Werbetour in Hannover

Doch die Jusos stellen nur knapp zwanzig Prozent der rund 360.000 SPD-Mitglieder. Den großen Rest will die Parteispitze auch im persönlichen Gespräch vom Koalitionsvertrag überzeugen. Den Auftakt machten Lars Klingbeil und Saskia Esken, gemeinsam mit Manuela Schwesig, Hubertus Heil und Boris Pistorius gestern Abend in Hannover.

Etwa 400 SPD-Mitglieder sind dabei. Die Stimmung hier ist pragmatisch. "Es ist ja alternativlos", sagt ein älterer Herr. Das sieht die Parteiführung genauso. Lars Klingbeil betont auf der Bühne, man habe gut verhandelt, schließlich habe die SPD bei der Bundestagswahl nur 16,4 Prozent bekommen. Der Appell der Partei-Promis ist klar: Die SPD trage in diesen schwierigen Zeiten Verantwortung für das Land. Und: Das Finanzpaket gebe jetzt Möglichkeiten, die es in der Ampel nicht gegeben hätte.

Warnung mit Blick auf Wahlen 29 und 33

Und immer wieder betont die SPD-Führung, es gäbe doch keine Alternative zu einer Koalition mit der Union, wenn man eine Regierung der demokratischen Mitte wolle. Saskia Esken sagt: "Wir haben noch eine Chance" und ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil spricht von der "verdammten Pflicht der SPD", dass man jetzt eben auch Kompromisse eingehen müsse, aber auf jeden Fall verhindern, dass die AfD bei den nächsten Wahlen weiter gewinnt.

Als Klingbeil die Jahre der nächsten Wahlen benennt, "die sind 29 und 33", geht ein leichtes Raunen durch den Saal. Wenn die SPD jetzt nicht zustimmen würde, dann müsste es Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung geben, das wolle man doch nicht. Klingbeil klingt nicht flehend, eher so, als spräche er das Unvermeidliche aus.

Koalitionsvertrag nicht SPD pur, aber...

Aber es gibt auch kritische Nachfragen: Nach dem Mindestlohn von 15 Euro, und ob man sich sicher sei, dass der eingeführt werde; warum die Erleichterungen bei der Einkommensteuer für kleine und mittlere Einkommen nicht sofort kommen sollen; dass die Migrationspolitik im Koalitionsvertrag inhuman sei und die Regelungen zur Wochenarbeitszeit dazu führen könnten, dass Arbeitskräfte ausgebeutet werden.

Am Ende ist das Fazit in Hannover bei der SPD-Basis klar: Dieser Koalitionsvertrag ist nicht SPD pur, aber Deutschland brauche in diesen schwierigen Zeiten eine stabile Regierung und dafür muss die SPD jetzt zustimmen. Und Klingbeil sagt das, was er schon zu Ampel-Zeiten immer sagte: "Bitte keinen Streit!"

Die Mehrheit der SPD-Mitglieder in Hannover hat er damit wohl überzeugt.

Andrea Römmele, Politikwissenschaftlerin Hertie School, über die Abstimmung der SPD-Mitglieder über Koalitionsvertrag

tagesschau24, 15.04.2025 10:00 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 15. April 2025 um 08:00 Uhr.