
Berlin "Wir haben die Kinder einbezogen. Sie konnten mitentscheiden und auch nein sagen"
Was, wenn die kleinste Einheit der Gesellschaft – die Familie – nicht intakt ist? Regisseur Daniel Abma zeigt in seinem neuen Dokumentarfilm "Im Prinzip Familie", wie vielseitig und berührend das Leben in einer betreuten Wohngemeinschaft sein kann.
"Im Prinzip Familie" ist ein Dokumentarfilm von Daniel Abma über das Leben in einer Wohngruppe für Kinder, die vorübergehend nicht bei ihren Eltern leben können. Der Film begleitet drei engagierte Erzieher:innen, darunter Antje Wagner, und zwei Kinder im ländlichen Alltag und zeigt die Bedeutung stabiler Beziehungen in einem überforderten System.
rbb: Herr Abma, Frau Wagner - wie kam der Kontakt zur Einrichtung zustande, in der Frau Wagner arbeitet?
Daniel Abma: Ich habe zum Thema Jugendhilfe recherchiert und verschiedene Einrichtungen angeschaut Am Ende war da ein Haus am See, dort wurde ich mit offenen Armen empfangen. Das Projekt war interessant für beide Seiten – für mich und für die Erzieher:innen. Anschließend bekam ich eine E-Mail, dass ich jederzeit willkommen bin, wenn ich weiter für das Filmvorhaben recherchieren will. Es gab eine ausgestreckte Hand, die ich dann sehr gern angenommen habe.
Antje Wagner: Er kam, recherchierte und ist geblieben. Wir sind dann über die Zeit ziemlich zusammengewachsen. Wenn die Kinder abends im Bett waren, haben wir noch lange geredet. Die Kinder haben ihn schnell aufgenommen, sie freuen sich bis heute, wenn er zu Besuch kommt und abends vorlesen kann.

Herr Abma, der Film zeigt nur einen ganz kleinen Teil Ihrer mehrjährigen Recherchearbeit. Wie lief der Entstehungsprozess ab?
Abma: Wenn ich Filme mache, sammle ich viel und arbeite möglichst breit. Es war mir wichtig, dass alle Beteiligten Lust haben, mitzumachen. Zusammen haben wir vieles ausgelotet. Wir zeigen etwa keine Akten, man erfährt keine Nachnamen der Kinder, man erfährt nicht, wo sich alles genau abspielt. Die Kinder sollen sich auch noch in zehn Jahren mit dem Film wohlfühlen. Einen Wutausbruch etwa zeigen wir nicht im Bild, sondern man hört nur den verzerrten Ton.
Wagner: Uns war es sehr wichtig, dass die Kinder mit den Dreharbeiten, insbesondere auch in sensiblen Situationen, immer einverstanden sind und nein sagen können.
Abma: Wir haben die Kinder einbezogen, die Erzieher:innen haben viel mit ihnen über den Filmprozess geredet. Sie konnten mitentscheiden und auch nein sagen.
Frau Wagner, was möchten die Erzieher:innen den Kindern in den Wohngruppen mitgeben?
Wagner: Einen Raum und ein Leben mit verlässlichen Beziehungen zu Erwachsenen, Freude, Normalität. Natürlich sind unsere Aufgaben komplexer, aber wir wollen ihnen helfen, einen eigenen Weg zu finden.
Sind Sie denn tatsächlich, wie es der Filmtitel suggeriert, "im Prinzip Familie" für die Kinder?
Wagner: Eine Familie ist und bleibt in erster Linie die Kernfamilie, da wollen wir keine Konkurrenz sein. Aber als Wohngruppe sind wir familienähnlich. Die Kinder sind füreinander wie Geschwister. Sie haben beispielsweise Mitspracherecht, wenn ein neues Kind einzieht. Manchmal gibt es Gänsehautmomente, etwa wenn ein Zwölfjähriger sagt, ihm wurde noch nie vorgelesen. Es sind die kleinen Sachen, wie Vorlesen, Brotdosen packen, die das familiäre Klima ausmachen: Für viele Kinder ist es nicht die erste und auch nicht die die zweite Wohngruppe. Sie sind Beziehungsabbrüche gewohnt. Wir haben gesagt: Wir halten durch.
Wir zeigen keine Akten, man erfährt keine Nachnamen der Kinder, man erfährt nicht, wo sich alles genau abspielt. Die Kinder sollen sich auch noch in zehn Jahren mit dem Film wohlfühlen
Nehmen Sie das Erlebte mit nach Hause?
Wagner: Der Steg am See, den man im Film sieht, ist für mich eine Art Kraftpunkt. Immer wenn ich zur oder von der Arbeit fahre, schaue ich noch einmal hin. Oft bin ich noch nachdenklich, aber wenn ich zu Hause bin, dann ist es auch vorbei.
Abma: Für uns als Filmteam war es auch spannend, weil es nicht unser Arbeitsalltag ist. Auf dem Rückweg vom Dreh haben wir immer darüber gesprochen, was wir erlebt haben. Abends saß ich mit den Erzieher:innen noch mal auf der Terrasse - das war ein sehr wertvoller Austausch.
Herr Abma, warum war es Ihnen wichtig, die Erzieher:innen in den Fokus zu rücken?
Abma: Menschen wie Antje Wagner werden in der Gesellschaft nicht wahrgenommen, sie bekommen nicht genug mediale Aufmerksamkeit. Es fehlt eine Lobby, die sich für die Arbeitsbedingungen einsetzt. Ich will mit meinem Film die Arbeit von Betreuerinnen und Betreuern wertschätzen. Vielleicht interessieren sich dadurch auch mehr Menschen für diesen Beruf – es gibt schließlich einen riesengroßen Personalmangel.
Frau Wagner, was bedeutet Ihnen diese Wertschätzung durch den Film?
Wagner: Es bestärkt einen in der eigenen Arbeit. Und es ist nicht nur für uns positiv, sondern auch für die Kinder. Solche Wohngruppen werden oft stigmatisiert. Der Film zeigt, was das für tolle Kinder sind, was sie alles leisten, wie sie ihren Alltag meistern.

Wie ist es für Sie, die Entwicklung dieser Kinder beobachten zu können?
Wagner: Wagner: Das macht mich sehr stolz. Nicht selten kommt ein Kind zu uns mit einem geringen Selbstwertgefühl. Im Laufe der Entwicklung sieht man, wie sie tougher werden, sich immer mehr für sich selbst einsetzen. Vor ein paar Jahren kam ich mir noch wie eine Entenmutter vor; alle um mich herum. Letztens waren wir am See baden und die Kinder strömten in alle Richtungen – auf einmal waren alle weg und hatten Spaß und Freude. Und dann lehnt man sich zurück und denkt sich: Wow, die gehen jetzt ihren Weg und trauen sich raus in die Welt. Man lässt sie mit einem weinenden und mit einem lachenden Auge gehen.

Was mögen Sie am meisten an Ihrem Beruf?
Wagner: Ich fahre immer gerne zur Arbeit. Wo wird man schon so herzlich begrüßt und gedrückt? (lacht) Da fällt der Stress und die Kämpfe, die man manchmal hat, hinten runter.
Wie haben die Kinder auf den fertigen Film reagiert?
Abma: Wir haben den Kindern, Eltern und Erzieher:innen zuerst den Film jeweils im geschützten Raum gezeigt, und dann einige Wochen später eine interne Premiere organisiert mit allen Kindern, ihren Freunden, Eltern und Geschwistern und Betreuer:innen. Das war wahnsinnig schön. Und die Hauptdarsteller, die Kinder, haben danach sogar Fragen vom Publikum beantwortet – sie wollten das Mikro gar nicht mehr abgeben. Sie sind richtig stolz auf den Film.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Vera Drude
Redaktionelle Mitarbeit: Alexandra Steinberg
Der Film "Im Prinzip Familie" startet am 5. Juni 2025 in den Kinos. Die rbb-Koproduktion wurde unter anderem mit dem Verdi-Preis bei Dok Leipzig und dem Hauptpreis der Nonfiktionale ausgezeichnet.
Sendung: rbbKultur – das Magazin, 31.05.2025, 18:30 Uhr