Sprüche und Grapschen kommen in der Ausbildung bei Physiotherapeuten immer mal wieder vor.

Baden-Württemberg Von Sprüchen bis Grapschen: Wie umgehen mit sexuellen Übergriffen in der Physiotherapie?

Stand: 11.04.2025 18:23 Uhr

Die Physiotherapie-Verbände in Baden-Württemberg fordern, dass der Umgang mit Grenzen und sexuellen Übergriffen verbindlicher Teil der Ausbildung wird.

Im Kreis Heilbronn sorgte Ende März die Verhaftung eines Physiotherapeuten für Schlagzeilen. Er soll gegenüber einer Patientin übergriffig geworden sein. Aber auch umgekehrt würden Therapeutinnen und Therapeuten zu Opfern von sexuellen Übergriffen, sagt die baden-württembergische Landesvorsitzende des Verbands Physio Deutschland Hannah Hecker. Wie man Grenzen richtig setzt und wahrt, ist bislang kein verpflichtender Teil der Ausbildung. Dabei wäre das wichtig, meinen nicht nur die Physio-Verbände.

"Manche greifen auch gezielt ans Knie"

Katja Schlungbaum betreibt eine Physio-Praxis in Heilbronn und kennt die unangenehmen Situationen aus ihrer langen Berufserfahrung. "Das fängt an bei Sprüchen wie 'Ich kann auch noch mehr ausziehen' und geht bis zum gezielten Griff ans Knie", sagt sie.

Erst vor Kurzem habe ein Patient in Heilbronn eine ihrer Schülerinnen belästigt. Ernesa Mordina ist fast fertig mit ihrer Ausbildung. Sie schildert, wie in Bad Friedrichshall (Kreis Heilbronn) ein Patient die Krankenhausbettdecke gehoben und nackt vor ihr gesagt habe "Nehmen Sie, was sie wollen". In der Physio-Schule sei sie auf solch übergriffige Situationen nicht vorbereitet worden.

Grenzen setzen muss man üben

Einige Patientinnen und Patienten seien auch aufgrund bestimmter Medikamente oder Demenz enthemmt, erklärt Katja Schlungbaum. Wichtig sei es, in jedem Fall klare Grenzen zu setzen. "Das aber muss man üben", sagt Manuela Kindermann von der Fachberatungsstelle bei sexuellem Missbrauch und sexualisierter Gewalt Pfiffigunde in Heilbronn.

Ist es zu einem Übergriff von Therapeuten- oder Patientenseite gekommen, rät Hannah Hecker von Physio Deutschland, sich an die Polizei zu wenden. Auch die Praxisleitung sei Ansprechpartner. Der Verband selbst könne nur eine Erstberatung machen und dann an die Fachberatungsstellen und Ermittler verweisen.

Wir fordern, dass der Umgang damit Teil jeder Ausbildung wird, in Berufen, die am Menschen arbeiten. Manuela Kindermann, Pfiffigunde Heilbronn
Grapschen und Sprüche kommen in der Ausbildung bei Physiotherapeuten immer mal wieder vor.

Ein Physiotherpeut massiert den Oberschenkel einer Patientin.

Kulturelle Unterschiede bei Scham und Intimität

Physiotherapie agiert oft in einem Vertrauensverhältnis. Dabei gelte es zu beachten, dass die Grenzen von Scham und Intimität kulturell unterschiedlich sein könnten, betont Wolfgang Oster vom Verband der Selbständigen in der Physiotherapie (VDB). Für eine Profisportlerin stelle die Behandlung einer Leistenzerrung meist kein Problem dar, für jemand aus einem streng religiösen Kulturkreis mitunter schon, so Oster. Auch das müsse in einer Ausbildung unbedingt thematisiert werden.

Besonders wichtig sei es, jeden Schritt der Behandlung den Patientinnen und Patienten genau zu erklären. Er nennt als Beispiel die Lymphdrainage nach einer Brustkrebs-OP. Sprich, warum hier auch der Brustbereich massiert wird.

Umgang mit traumatisierten Patientinnen und Patienten

Viele Menschen werden im Laufe ihres Lebens Opfer sexueller Gewalt. Allein für 2024 wurden in Baden-Württemberg 14.420 Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung registriert. Die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen.

Manche Betroffene entwickeln eine Traumafolgestörung. Schon kleine Berührungen könnten dann triggern, also dazu führen, dass der Mensch die traumatische Situation im Kopf erneut durchlebe (Flashback), schildert Manuela Kindermann. Dass es dieses Phänomen und Betroffene gibt, sollte ebenfalls in die Ausbildung integriert werden.

Sie empfiehlt, zu Beginn einer Behandlung grundsätzlich zu fragen, ob es Berührungen oder Bereiche gebe, die gemieden werden sollten oder wo sich ein Mensch unwohl fühle.

Veraltete Physio-Ausbildung von 1994

Bislang ist es den Physio-Schulen überlassen, ob und wie sie den Umgang mit Grenzen lehren oder nicht. Wir haben etwa 100 Stunden für Sonstiges, sagt Wolfgang Oster, der an einer Einrichtung in Mainz lehrt und arbeitet. Was verpflichtender Teil der Ausbildung ist, legt der Gesetzgeber fest. Für den Entwurf ist das Bundesgesundheitsministerium in Berlin zuständig.

Das aktuelle Gesetz stammt aus dem Jahr 1994. Die Inhalte seien sowohl medizinisch als auch pädagogisch veraltet, kritisiert Oster. Auch Physio Deutschland fordere seit Jahren eine Novellierung, so Hannah Hecker.

Es gab bereits einen Referentenentwurf zur Modernisierung der Ausbildung, doch aufgrund des Ampel-Aus im November 2024 konnte das Gesetzgebungsverfahren nicht mehr abgeschlossen werden. Im Rahmen einer Novellierung der Ausbildung sei aber angedacht, "diese Themen ausdrücklich in den bundesrechtlichen Grundlagen zu berücksichtigen, um eine verbindliche curriculare Umsetzung in den Physiotherapieschulen zu erreichen", schreibt das Gesundheitsministerium auf SWR-Anfrage.

Hilfe bei sexualisierter Gewalt
Wer selbst sexualisierte Gewalt erfährt oder den Verdacht hat, dass jemand anderes davon betroffen ist, kann sich hier Hilfe holen:
  • Beim "Hilfe-Portal sexueller Missbrauch": anonym anrufen unter 0800 22 55 530 oder über die Webseite eine Nachricht schreiben.
  • In allen Fällen geht auch die Nummer gegen Kummer: 116 111
  • Der Verein N.I.N.A., der bei sexualisierter Gewalt hilft, gibt es im Netz und auf Facebook und Instagram
  • Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen, können sich beim Elterntelefon melden 0800 111 0 550 

Sendung am Sa., 12.4.2025 6:00 Uhr, SWR4 BW am Samstagmorgen, SWR4 Baden-Württemberg

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