Ein Neugeborenes liegt in einer Geburtsklinik.

Baden-Württemberg Tübinger Experte fordert: Geburtskliniken ohne angeschlossene Kinderklinik schließen

Stand: 15.04.2025 21:54 Uhr

In Baden-Württemberg sind mehr als die Hälfte der Kliniken, in denen Kinder zur Welt kommen, Geburtskliniken der niedrigsten Versorgungsstufe. Experten fordern, sie abzuschaffen.

Mona Rubinstein und ihr Ehemann sitzen in ihrem Wohnzimmer in der Nähe von Heidelberg zwischen Spielsachen ihres zweiten Kindes. In einem Fotoalbum bewahren sie die Bilder ihres verstorbenen ersten Sohnes Jannis auf. Er lebte nur wenige Stunden. Zur Welt kam er im Krankenhaus Salem, einer Geburtsklinik der niedrigsten Versorgungsstufe. Diese verfügt über keine eigenen Kinderärzte. Die kinderärztliche Versorgung wird über einen Rufdienst sichergestellt.

Mona Rubinstein hatte keine Risikoschwangerschaft und ihre Hebamme hatte ihr empfohlen, in einer kleinen Klinik zu entbinden, weil sie dort nicht nur "eine Nummer" im Großbetrieb sei. Was Mona Rubinstein nicht wusste: Im Krankenhaus Salem gibt es nicht nur keine eigenen Kinderärzte, sondern auch keine Kinderstation. Sie war davon ausgegangen, dass in einem Krankenhaus, wo man Kinder gebären könne, auch eine kinderärztliche Versorgung gewährleistet sei: "Uns war nicht klar, dass die Versorgung eben in einem kleinen Krankenhaus nicht gegeben sein kann aufgrund der Besetzung, der fachlichen Ausbildung, der Weiterbildung oder des Wissens."

Was bedeuten die Level der Kliniken?
In Deutschland werden Krankenhäuser in Level eingeteilt. Das sind Versorgungsstufen, die angeben, welche Versorgungsleistungen ein Krankenhaus erbringen kann. Die Level sind in Grundversorgung, Regel- und Schwerpunktversorgung, sowie Maximalversorgung unterteilt.
Level III Krankenhäuser sind beispielsweise Maximalversorger wie Universitätskliniken. Level IV-Geburtskliniken sind Krankenhäuser der niedrigsten Versorgungsstufe. Im Notfall greifen sie auf Kinderstationen von anderen Klinken zurück. 

Gutachten sieht organisatorisches Problem

Laut einem Gutachten im Auftrag der Techniker Krankenkasse, das dem SWR vorliegt, wurden in dem Fall die Leitlinien zur "Erstversorgung von Neugeborenen nicht erfüllt". Der Grund dafür sei laut Gutachten in erster Linie ein organisatorisches Problem. So habe in der Notfallsituation kein Anästhesist für einen unverzüglichen Einsatz im Kreißsaal zur Verfügung gestanden. Jannis kam ohne Eigenatmung zur Welt, die herbeigerufenen Klinik-Anästhesisten trafen laut Gutachten erst 17 Minuten nach der Geburt im Kreißsaal ein.

Der alarmierte Neonatologe, ein spezialisierter Kinderarzt des Universitätsklinikums Heidelberg, brauchte 27 Minuten bis er den Jungen intubieren konnte. Der Arzt musste erst alarmiert werden und dann eine längere Wegstrecke zurücklegen. Das dauerte offenbar zu lange, um Jannis Leben zu retten. Das Krankenhaus Salem teilt auf SWR-Anfrage mit, dass - dem Standard einer Geburtsklinik entsprechend - ein Kinderarzt im Krankenhaus Salem nicht dauerhaft anwesend sei. Deshalb werde das vorhandene Personal, insbesondere in der Anästhesie, für die Notfallversorgung Neugeborener trainiert.

Mona Rubinstein und ihr Ehemann sitzen in ihrem Wohnzimmer in der Nähe von Heidelberg

Ihr erstes Kind haben Mona Rubinstein und ihr Ehemann verloren. Ihr Sohn lebte nur wenige Stunden.

Christian Poets, Leiter der Abteilung für Neonatologie des Universitätsklinikum Tübingen, sagt im SWR-Interview, bei Geburten könne es immer zu Komplikationen kommen. Aus seiner Sicht sollten allerdings keine Geburten mehr in Geburtskliniken ohne Kinderärzte stattfinden. "Wenn ein Kinderarzt erst aus der nächstgelegenen Klinik kommen muss, können das unter Umständen entscheidende 30 Minuten sein, die dann eben zu lang sind, um einen Hirnschaden beim Kind zu verhindern."

Einige Level IV-Geburtskliniken nehmen Risikoschwangere auf

Bei Level IV-Geburtskliniken gelten grundsätzlich Einschränkungen bei Risikoschwangerschaften. Entsprechende Patientinnen sollen nach Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) nicht aufgenommen werden. Risikofaktoren sind unter anderem extremes Übergewicht, Verdacht auf Plazentalösung oder schwere Formen der Schwangerschaftsvergiftung. Betroffene Frauen sollen in Krankenhäusern einer höheren Versorgungsstufe entbinden, also beispielsweise in einer Uniklinik mit Kinderintensivstation.

Einige Level IV-Geburtskliniken halten sich nicht daran, wie Recherchen von SWR, BR, MDR und rbb belegen. Zu 17 Fällen liegen den Reporterinnen interne Unterlagen und Gutachten vor, wonach offenbar Risikoschwangere entgegen der Richtlinie aufgenommen wurden - nicht nur in Niedersachsen, sondern auch etwa in Bayern, Baden-Württemberg, Brandenburg und Sachsen-Anhalt. Mediziner und Rechtsanwälte kennen weit mehr Urteile und Verdachtsfälle. Reporterinnen finden Fälle von geschädigten und toten Kindern, die in Level IV-Geburtskliniken zur Welt kamen. Viele der Fälle sind noch nicht gerichtlich geklärt.

Geburtskliniken unterschiedlich auf Bundesländer verteilt

Von den 568 Krankenhäusern, die in Deutschland Geburtshilfe anbieten, sind 251 Level-IV-Geburtskliniken. Das ergab eine Umfrage unter den Bundesländern durch BR, MDR, SWR und rbb. Die Verteilung ist je nach Bundesland unterschiedlich: In Ostdeutschland gibt es kaum solche Level IV-Kliniken. Nach Ansicht von Experten liegt das an früheren DDR-Strukturen und einer besseren Zentralisierung. Als einziges westdeutsches Bundesland hat allein das Saarland keine Geburtsklinik mehr.

In Baden-Württemberg gibt es insgesamt 68 Kliniken, die Geburtshilfe anbieten, davon sind 37 Geburtskliniken der niedrigsten Versorgungsstufe. Damit liegt das Land also in etwa im bundesweiten Durchschnitt. Das Krankenhaus Salem betont gegenüber dem SWR, man erfülle alle Voraussetzungen für eine Level IV-Klinik.

Der Tübinger Experte Poets fordert allerdings von der Politik: "Es sollte nur Kliniken mit der Erfahrung von mehr als 1.000 Geburten pro Jahr und mit einer Kinderklinik im Haus geben, und das sollte der Gesetzgeber regeln." Das baden-württembergische Gesundheitsministerium verweist auf ein Gutachten, wonach die geburtshilfliche Versorgung in Baden-Württemberg "als insgesamt sehr gut" bewertet werde. Rund 95 Prozent der Einwohnerinnen im geburtsfähigen Alter könnten einen geburtshilflichen Versorger in unter 30 Minuten erreichen. Daher sei es nicht sinnvoll, Kliniken mit bisher niedrigeren Geburtenzahlen künftig von der Geburtshilfe auszuschließen, "da sonst zu lange Fahrzeiten anfallen würden".

Deutsche Geburtshilfe im internationalen Vergleich nur Mittelfeld

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe warnt seit Jahren vor einem "schlechteren perinatologischen Outcome" kleinerer Krankenhäuser. Das bedeutet, dass dort mehr Kinder bei der Geburt sterben oder zu Schaden kommen. Generell liegt Deutschland nach OECD-Daten in der Qualität bei der Versorgung von Neugeborenen im europäischen Mittelfeld, bei der Säuglingssterblichkeit sogar darunter. Besser sind die Zahlen demnach unter anderem in Lettland, Montenegro, Spanien und Portugal. Auch Christian Poets sieht Portugal als Vorbild und fordert eine Zentralisierung der Kliniken: "In Portugal hat man die Geburtshilfe bereits 1989 zentralisiert und Häuser mit weniger als 1.500 Geburten geschlossen. Ein Erfolgsmodel."

Mona Rubinstein hat sich für die Geburt ihres zweiten Kindes für die drittgrößte Geburtshilfeklinik Deutschlands in Speyer entschieden. Dort kommen pro Jahr mehr als 3.000 Babys zur Welt. Mona Rubinstein glaubt, mit dem Wissen von heute über die unterschiedlichen Versorgungsstufen in deutschen Krankenhäusern hätte sie den Tod von Jannis verhindern können. Das Krankenhaus Salem bedauert das Schicksal des kleinen Jannis, sagt aber, er sei "fach- und leitliniengerecht" versorgt worden.

Die ganze Recherche sehen Sie im Politikmagazin Fakt am Dienstag um 21:45 Uhr im Ersten.

Sendung am Di., 15.4.2025 19:30 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW

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