Ärztliches Personal eilt mit einem liegenden Patienten über einen Flur. An den vier Unikliniken in BW fallen Überstunden oft unter den Tisch. Das zeigt eine aktuelle Umfrage.

Baden-Württemberg "Skandalöse Situation": Marburger Bund wirft Unikliniken in BW Arbeitszeitbetrug vor

Stand: 02.06.2025 06:00 Uhr

Ärzte der vier Unikliniken im Land machen regelmäßig Überstunden. Diese werden aber laut einer aktuellen Umfrage nicht immer erfasst. Der SWR konnte die Ergebnisse vorab einsehen.

Von Clara Gehrunger

Machen Ärztinnen und Ärzte Überstunden an den vier Unikliniken in Baden-Württemberg, werden diese teilweise nicht berückstichtigt. Das zeigt eine aktuelle Umfrage des Marburger Bundes. Auch Leon (Name von der Redaktion geändert) ist Arzt an einer der vier Unikliniken in Baden-Württemberg. Weil er sich um seine berufliche Zukunft sorgt, möchte er anonym bleiben. Die Bedingungen, unter denen er arbeitet, beschreibt der junge Mann als unerträglich.

Überstunden würden sich nicht vermeiden lassen

Wie die meisten seiner Kollegen hat Leon einen befristeten Vertrag. Überstunden macht er nach eigener Aussage regelmäßig, das lasse sich kaum vermeiden, sagt er. Das eigentliche Problem sei aber ein anderes: Ein Großteil der Überstunden bleibe unberücksichtigt, werde nicht als Arbeitszeit erfasst. "Das ist extrem ungerecht. Gefühlt ist die Arbeit nichts wert", sagt Leon.

Wenn man mit seinem Vorgesetzten darüber spricht, heißt es: Du bist zu schlecht, zu langsam - dass es deine eigene Schuld ist, wenn du Überstunden machst. Leon, Arzt an einer Uniklinik in BW

Immer kürzere Visiten an Unikliniken in BW

So würden sich viele nicht trauen, ihre Überstunden einzutragen, sagt Leon. Für ihn und seine Kolleginnen und Kollegen habe die Belastung auch Folgen für die Gesundheit - führe beispielsweise zu Schlafstörungen und Burnout. Letztlich wirke sich das auch auf die Versorgung der Patienten aus, so Leon.

In einem dunklen Raum steht ein Stuhl vor einer großen Lichtquelle. Ein Arzt, der anonym bleiben möchte, berichtete von der Arbeitszeiterfassung an einer der vier Unikliniken in BW.

In einem dunklen Raum steht ein Stuhl vor einer großen Lichtquelle. Ein Arzt, der anonym bleiben möchte, berichtete von der Arbeitszeiterfassung an einer der vier Unikliniken in BW.

"Wir verdichten die Arbeit, um möglichst in der erforderlichen Zeit zu bleiben", so Leon. "Die grundlegende Therapie und Diagnostik funktionieren trotzdem noch gut. Aber Patienten merken, dass Visiten immer kürzer werden." Unterhält er sich nur kurz mit Patienten, könnten wertvolle Informationen verloren gehen.

Häufig wird Patienten auch eine schwere Diagnose zwischen Tür und Angel vermittelt. Leon, Arzt an einer Uniklinik

Berichte von internem Druck in Unikliniken

Wie Leon geht es offenbar vielen Medizinern an den Unikliniken in Baden-Württemberg. Der Marburger Bund hat von März bis April 2025 seine Mitglieder an den Unikliniken in Heidelberg, Freiburg, Tübingen und Ulm befragt. Mehr als 820 Ärztinnen und Ärzte haben an der Befragung teilgenommen - also ein gutes Viertel der aufgerufenen Mitglieder der Gewerkschaft.

Das Stimmungsbild zeigt: Bei rund 60 Prozent der Befragten sollen wöchentlich bis zu zehn Stunden Arbeit nicht erfasst werden. Teilweise seien es auch mehr als zehn Stunden pro Woche. Außerdem gebe es internen Druck, gewisse Überstunden nicht zu dokumentieren, heißt es von einigen Beschäftigten in der Befragung. Vor allem dann, wenn die tatsächliche Arbeitszeit die gesetzlich zulässige Tagesarbeitszeit überschreite.

Leon (Name von der Redaktion geändert) arbeitet als Arzt in einer Uniklinik in BW. Er berichtet, dass die Unikliniken Überstunden unter den Tisch fallen lassen.

Leon (Name von der Redaktion geändert) arbeitet als Arzt in einer Uniklinik in BW. Er berichtet, dass die Unikliniken Überstunden unter den Tisch fallen lassen.

"Die Situation ist erschütternd und skandalös und meiner Meinung nach auch ein vom Arbeitgeber begangener Arbeitszeitbetrug an den Ärztinnen und Ärzten", urteilt Michael Beck vom Marburger Bund Baden-Württemberg. Er fordert: "Das muss umgehend aufhören."

Laut Befragungsergebnis muss ein Großteil der Beschäftigten die Mehrarbeit vom Vorgesetzten genehmigen lassen. Das sei kompliziert, schreiben mehrere der Mediziner im Freitext-Feld der Befragung. Überstunden müssten immer begründet werden. Außerdem: Wer die tatsächliche Arbeitszeit angebe, werde von der Verwaltung um Korrektur gebeten.

Pflicht der elektronischen Arbeitszeiterfassung

Abhilfe sollte eigentlich eine neue tarifliche Regelung zur Erfassung der Arbeitszeit bringen. Laut Tarifvertrag muss diese seit Januar 2025 ausschließlich elektronisch erfolgen. An entsprechenden Geräten sollen Beschäftigte erfassen, wann sie mit ihrer Arbeit beginnen und wann sie diese beenden.

Jemand blättert in den Ergebnissen einer Mitgliederbefragung. Der Marburger Bund sieht in den Ergebnissen seiner Mitgliederbefragung einen klaren Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz.

Der Marburger Bund sieht in den Ergebnissen seiner Mitgliederbefragung einen klaren Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz.

Tatsächlich geben nur drei Prozent der Befragten an, dass ihre Arbeitszeit inzwischen elektronisch und manipulationssicher erfasst werde. Am häufigsten passiere das noch digital, beispielsweise über Dienstplanprogramme, in denen die vorgesehenen Arbeitszeiten lediglich abgehakt werden. Teilweise kämen auch noch manuell geführte Listen zum Einsatz. In wenigen Fällen werde die Arbeitszeit gar nicht protokolliert.

Marburger Bund: Arbeitsbelastung zu hoch

Der Marburger Bund Baden-Württemberg zeigt sich alarmiert. Die Arbeitsbelastung im ärztlichen Dienst sei seit vielen Jahren zu hoch, kommentiert Sylvia Ottmüller, die Erste Landesvorsitzende des Marburger Bundes Baden-Württemberg.

Mit der Zunahme der Dauer der Arbeitszeit steigt das Arbeitsunfallrisiko deutlich. Sylvia Ottmüller, Erste Landesvorsitzende des Marburger Bundes Baden-Württemberg

Der Gewerkschaft seien massive Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz an den Unikliniken bekannt, sagt Ottmüller. Es hätten bereits Kontrollen stattgefunden, bei denen Mängel erkannt worden seien. Auch Bußgelder im sechsstelligen Bereich sind laut Ottmüller verhängt worden.

Ärztliche Verwaltungsaufgaben nehmen zu

Die Arbeitszeit der Ärztinnen und Ärzte habe sich unglaublich verdichtet, sagt Michael Beck vom Marburger Bund Baden-Württemberg. Abgesehen vom Personalmangel sei eine wichtige Ursache, dass neben der ärztlichen Tätigkeit auch viele Verwaltungsaufgaben anfielen.

Michael Becks Vorschlag: "Die Unikliniken könnten etwa Stationssekretariate besser ausstatten und dadurch Ärzte entlasten. Damit sie das, wofür sie ausgebildet sind, wirklich umsetzen und nicht-ärztliche Aufgaben abgeben können."

Michael Beck ist Pressesprecher beim Marburger Bund Baden-Württemberg. Aus seiner Sicht liegt das Problem auch in den vielen Verwaltungsaufgaben, die bisher das ärztliche Personal übernimmt.

Michael Beck ist Pressesprecher beim Marburger Bund Baden-Württemberg. Aus seiner Sicht liegt das Problem auch in den vielen Verwaltungsaufgaben, die bisher das ärztliche Personal übernimmt.

Unikliniken weisen die Vorwürfe zurück

Die Unikliniken teilten auf Anfrage des SWR fast wortgleich mit, sie nähmen Hinweise auf mögliche Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz sehr ernst, wiesen die Vorwürfe des systematischen Betruges aber zurück. Im klinischen Alltag könne es vorkommen, dass das Arbeitszeitgesetz kurzfristig nicht eingehalten werden könne. Dabei handle es sich aber um Einzelfälle.

Sendung am Mo., 2.6.2025 18:00 Uhr, SWR Aktuell Baden-Württemberg, SWR BW