
Schwarz-Rot Warum es beim Mindestlohn Uneinigkeit gibt
CDU-Chef Merz widerspricht SPD-Chef Klingbeil in der Frage, wie hoch der Mindestlohn sein soll. Es gebe keinen Automatismus für 15 Euro. Wer hat Recht? Und was macht die Mindestlohnkommission? Ein Überblick.
Kaum ist der Koalitionsvertrag von Union und SPD vorgestellt, rüttelt CDU-Chef Friedrich Merz an einem zentralen Versprechen der Sozialdemokraten. Es gebe keinen Automatismus, dass der gesetzliche Mindestlohn 2026 auf 15 Euro steige, bremste Merz in einem Interview der "Bild am Sonntag".
Merz will am 6. Mai Bundeskanzler werden - auch mit den Stimmen der SPD. Mit seinen Aussagen zum Mindestlohn widerspricht er nun SPD-Chef Lars Klingbeil. Der hatte am Donnerstag gesagt: "Der Mindestlohn wird im Jahr 2026 auf die 15 Euro steigen, die wir haben wollen." Derzeit beträgt der Mindestlohn 12,82 Euro pro Stunde.
Wer hat Recht? Dabei hilft ein Blick darauf, wie der Mindestlohn festgelegt wird, zu welchen Zahlen die Hans-Böckler-Stiftung kommt und was die Arbeitgeber von Vorgaben halten.
Schon heute ist absehbar: Auf einen Mindestlohn von 15 Euro für 2026 kann die Mindestlohnkommission nur kommen, wenn sie die Untergrenze stärker anhebt, als es die Entwicklung der Tariflöhne hergibt. Damit würde der Mindestlohn etwa um einen Euro höher ausfallen als bei einer bloßen Berücksichtigung der Tarifverdienste.
Was ist die Mindestlohnkommission?
Seit der Einführung der gesetzlichen Lohnuntergrenze im Jahr 2015 mit 8,50 Euro pro Stunde ist eine Mindestlohnkommission dafür zuständig, die jährlichen Erhöhungen festzulegen. Sie setzt sich aus je drei Vertreterinnen und Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern, einer Vorsitzenden und zwei beratenden Wissenschaftlern zusammen.
Wortführer für die Gewerkschaften ist Stefan Körzell vom Deutschen Gewerkschaftsbund und für die Arbeitgeber Steffen Kampeter vom Spitzenverband BDA. Alle zwei Jahre überprüft die Kommission die Höhe und schlägt der Bundesregierung bis Ende Juni vor, wie stark der Mindestlohn im folgenden und im übernächsten Jahr steigen soll.
Bis spätestens Ende Juni 2025 muss die Kommission einen Vorschlag für die Jahre 2026 und 2027 machen. Die Bundesregierung kann diesen Vorschlag nur unverändert per Rechtsverordnung umsetzen. Sonst gibt es gar keine Anhebung.
Woran wird der Mindestlohn gemessen?
Grundsätzlich orientiert sich die Kommission an der Entwicklung der Tariflöhne - und zwar "nachlaufend". Das heißt, sie nimmt keine erwarteten Tariferhöhungen vorweg. Bereits abgeschlossene Tarifverträge kann sie aber berücksichtigen.
Das Statistische Bundesamt errechnet aus mehreren hundert Tarifverträgen einen Index für die Entwicklung der tariflichen Stundenverdienste ohne Sonderzahlungen. Die Kommission nimmt die Index-Entwicklung der vergangenen zwei Jahre als Grundlage.
In diesem Jahr kommt erstmals ein neuer Aspekt hinzu, nachdem die Kommission Anfang 2025 eine neue Geschäftsordnung bekanntgegeben hat. Sie orientiert sich "im Rahmen einer Gesamtabwägung" weiter an der Tariflohnentwicklung - laut neuem Regelwerk aber auch am Referenzwert von 60 Prozent des mittleren Bruttolohns eines Vollzeitbeschäftigten. Das ist neu und greift eine langjährige Forderung der Gewerkschaften, aber auch eine Richtwert-Empfehlung der Europäischen Mindestlohnrichtlinie auf.
Was bedeutet das konkret?
Die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung hatte im März Berechnungen im Auftrag der Kommission vorgelegt. Die 15-Euro-Schwelle wird demnach nur erreicht, wenn ein Wert von 60 Prozent des mittleren Lohns eines Vollzeitbeschäftigten umgesetzt wird.
Wenn man die Daten des Statistischen Bundesamtes fortschreibe, ergebe sich daraus ein Mindestlohn von 14,88 Euro bis 15,02 Euro im Jahr 2026 und von 15,31 Euro bis 15,48 Euro im Jahr 2027. "Nach dem bisherigen Anpassungsmodus stünde lediglich eine Anhebung auf rund 14 Euro an", erklärten die gewerkschaftsnahen Forschungsinstitute WSI und IMK.
Wer hat nun Recht - Merz oder Klingbeil?
Im Entwurf ihres Koalitionsvertrages, dem die SPD-Mitglieder erst noch zustimmen müssen, legen Union und SPD fest, dass sie "an einer starken und unabhängigen Mindestlohnkommission" festhalten. Diese werde sich "im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren".
Damit haben Union und SPD die Formulierungen aus der Geschäftsordnung der Kommission übernommen. Sie haben aber hinzugefügt: "Auf diesem Weg ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar."
Merz liegt somit richtig mit der Aussage, dass es keinen "gesetzlichen Automatismus" gibt. Die Erhöhung liegt in den Händen der Kommission.
Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP hatte die Kommission zwar per Gesetz übergangen und den Mindestlohn zum 1. Oktober 2022 auf zwölf Euro angehoben. Eine Wiederholung hat die Union aber stets ausgeschlossen. Die Kommission entscheide in "eigener Autonomie", unterstrich Merz.
SPD-Chef Klingbeil könnte am Ende richtig liegen, wenn die Kommission einen Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des mittleren Lohns eines Vollzeitbeschäftigten festlegt. Das ist derzeit aber keineswegs garantiert. Eher im Gegenteil: Es ist völlig offen, was eine "Orientierung" an einem Zielwert von 60 Prozent bedeutet. Ein starre Untergrenze ist es nicht, sondern eine Marke, die die Kommission im Blick haben muss.
Können die Arbeitgeber die Erhöhung verhindern?
Die Kommission will dieses Mal einvernehmlich entscheiden, nachdem sie sich im Sommer 2023 zerstritten hatte. Dafür hat sie einen aufwendigen Abstimmungsprozess festgelegt. Erst in einer dritten Abstimmungsrunde soll die Stimme der Vorsitzenden ausschlaggebend sein, wenn es bis dahin "keine Mehrheitsentscheidung" gibt.
Letztendlich könnten die Arbeitgeber also womöglich überstimmt werden, was die Zukunft der Kommission infrage stellen dürfte. Im Sommer 2023 waren die Gewerkschaften überstimmt worden.
"Alle aktuell diskutierten Zahlen zur Mindestlohnhöhe sind politische Zahlen", sagte Arbeitgeber-Wortführer Kampeter der Nachrichtenagentur Reuters bereits im März. Er sprach von "politischen und sozial-romantischen Spielchen". Kampeter verwies zudem auf die Wirtschaftsmisere in Deutschland: Diese gebiete "ein außerordentlich sensibles Vorgehen".
Die Arbeitgeber argumentieren unter anderem, dass eine Anhebung des Mindestlohns keine Arbeitsplätze gefährden dürfe. Dieses Risiko schwingt aber mit, wie auch eine Studie des IAB-Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit (BA) im Oktober 2024 zeigte: Bei einer Anhebung des Mindestlohns von damals 12,41 Euro auf 14 Euro rechnete fast jeder fünfte Betrieb in Deutschland mit einem Arbeitsplatzabbau.
Bei ihrer Entscheidung hat die Kommission ohnehin Spielraum. Sie kann von ihren Kriterien "abweichen, wenn besondere ökonomische Umstände vorliegen". Seit mehr als zwei Jahren steigt die Arbeitslosigkeit in Deutschland, die Wirtschaft kommt auch in diesem Jahr nach zwei Jahren Rezession kaum von der Stelle.