Syrische Familie vor Flüchtlingsunterkunft (Archivbild)

Familiennachzug vor dem Aus "Ohne Familie ist das kein Leben"

Stand: 19.06.2025 16:12 Uhr

Die Bundesregierung will den Familiennachzug für Geflüchtete mit eingeschränktem Schutzstatus aussetzen. Für viele würde das die jahrelange Trennung von ihren Angehörigen bedeuten - mit sozialen und psychischen Folgen.

Von Atiena Abednia, NDR

Youlia sitzt still an einem runden Tisch im Behandlungsraum, die Hände unter dem Kinn gefaltet, die Augen aufmerksam auf die Trainerin gerichtet. Vor ihr steht ein CD-Player. Sobald ein Satz ertönt, spricht sie ihn vorsichtig nach. Jeder Laut ist eine kleine Herausforderung, jeder Ton ein Stück neue Welt.

Die Neunjährige ist gehörlos geboren, stammt aus dem Norden Syriens, an der Grenze zur Türkei. In Deutschland erhält sie ein Cochlea-Implantat. Mit der elektronischen Hörprothese hört sie ihre Umwelt, lernt sprechen - auf Deutsch. Ihre Muttersprache Kurdisch versteht sie nicht.

Flucht nach Deutschland

Youlias Vater Abdulaziz Hesso will ihr eine Zukunft ermöglichen: Sicherheit, medizinische Versorgung, Schulbildung. All das ist in Syrien derzeit kaum möglich.

2022 flohen die beiden nach Deutschland - über die Türkei, das Mittelmeer, den Balkan. Mehr als einen Monat lang sind sie unterwegs. Seine Frau und zwei Söhne ließ Abdulaziz zurück. Zu gefährlich sei die Flucht, sagt er.

Noch nicht wirklich angekommen

Heute leben Vater und Tochter in Braunschweig. Abdulaziz ist gelernter Ingenieur für Maschinenbau. In Deutschland besucht er einen Sprachkurs. Youlia geht in die zweite Klasse.

Die beiden sind ein eingespieltes Team, doch der Alltag fällt ihnen schwer. "Ohne Familie ist das kein Leben", sagt Abdulaziz. Seine Tochter habe oft Angst, könne nachts nicht schlafen. Auch er sei innerlich zerrissen.

Abdulaziz und Youlia gelten hier als subsidiär schutzberechtigt: Das heißt, sie haben keinen vollen Asylstatus, dürfen aber vorerst bleiben, weil ihnen in ihrer Heimat konkrete Gefahren für Leib und Leben drohen. Den Antrag auf Familiennachzug hat er vor zwei Jahren kurz nach seiner Ankunft in Deutschland gestellt.

Bundesregierung plant befristete Aussetzung

In einem aktuellen Gesetzentwurf der Bundesregierung ist nun vorgesehen, den Familiennachzug für diese Gruppe von Menschen zunächst für zwei Jahre zu stoppen. Ziel sei es, irreguläre Migration zu begrenzen und Anreize für Fluchtbewegungen zu verringern. Man wolle die Kommunen bei der Aufnahme von Flüchtlingen entlasten, heißt es.

So wie Abdulaziz lebten Ende 2024, etwa 381.000 Menschen mit subsidiärem Schutzstatus in Deutschland. Im selben Jahr wurden rund 12.000 Visa für Angehörige dieser Gruppe im Rahmen des Familiennachzugs erteilt. Im bisherigen Verlauf von 2025 sind bislang etwa 5.000 Visa vergeben worden.

Laut Bundesregierung warteten zum Stichtag 19. Februar 2025 knapp 2.800 Menschen mit subsidiärem Schutz auf ihrer zentralen Warteliste für den Familiennachzug - eine Zahl, die Mehrfachanmeldungen enthalten könnte. Die meisten Anträge stammen aus Ländern wie Syrien, Somalia, Jemen, Afghanistan und Eritrea, sowohl 2024 als auch in diesem Jahr, so das Auswärtige Amt.

Unterschiede in der kommunalen Belastung

Fachleute aus der Migrationsforschung  bewerten die geplante Regelung kritisch. Jochen Oltmer, Professor für Migrationsgeschichte an der Universität Osnabrück, verweist darauf, dass der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte ein legaler Zugang sei und damit keine irreguläre Migration fördere. Vielmehr würde durch die Aussetzung ein legaler Weg erschwert oder ganz blockiert.

Dem Argument der kommunalen Überlastung entgegnet der Migrationsforscher mit Ergebnissen aktueller Befragungen. Diese zeigen ein differenziertes Bild, so Oltmer.

Einige Kommunen berichten von zusätzlichen Anforderungen, viele sprechen lediglich von moderater Belastung, andere wiederum sehen kaum Auswirkungen. Pauschal von einer flächendeckenden Überlastung zu sprechen, sei laut Oltmer daher nicht gerechtfertigt.

Betroffene zwischen Hoffnung und Unsicherheit

Abdulaziz Hesso telefoniert täglich mit seiner Frau und den beiden Söhnen und verspricht ihnen, dass es nicht mehr lange dauern wird. Die Nachricht über den geplanten Stopp des Familiennachzugs habe auch bei ihnen Verunsicherung ausgelöst, sagt er.

Seine Familie fühle sich im Stich gelassen - vom Vater ebenso wie von der deutschen Politik. "Drei Tage lang haben sie nicht mit mir gesprochen", erzählt er. Die Hoffnung, bald wieder vereint zu sein, sei spürbar geschwächt.

Psychische Belastung als Integrationsrisiko?

Auch Organisationen wie die Caritas, Diakonie oder Pro Asyl äußern Kritik. Sie verweisen auf mögliche psychische und soziale Belastungen insbesondere bei Kindern, die über längere Zeit von ihren Familien getrennt bleiben. Außerdem sei der bürokratische Aufwand beim Familiennachzug ohnehin hoch, die Wartezeiten beträfen viele Schutzsuchende bereits jetzt.

Solche Trennungen können zu erhöhtem Stress, Ängsten und Integrationsproblemen führen. Das zeigen Studien, die unter anderem von der Robert Bosch Stiftung, der Berliner Charité und dem Schweizerischen Roten Kreuz durchgeführt wurden.

Zudem verweisen die Organisationen auf Artikel 6 des Grundgesetzes, der Ehe und Familie unter besonderen Schutz stellt - ein Verfassungsgebot, auf das sich gerade auch die Union immer wieder beruft, wenn sie den besonderen Wert der Familie betont.

Konflikt zwischen Schutz und Steuerung

Die Debatte ist nicht neu: Bereits zwischen 2016 und 2018 war der Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte zeitweise ausgesetzt worden. Seitdem regelt ein monatliches Kontingent von 1.000 die Zahl der zugelassenen Nachzüge.

Die aktuelle Diskussion zeigt ein Spannungsfeld zwischen individuellen Schutzansprüchen und migrationspolitischer Steuerung. Während Befürworter der geplanten Aussetzung eine Begrenzung von Migration im Blick haben, verweisen Kritiker auf integrationspolitische und humanitäre Aspekte.

Zwischen Ankommen und Vermissen

Für Youlia ist Deutschland zur neuen Heimat geworden, auch wenn ihr die Umarmung ihrer Mutter, das gemeinsame Spielen mit den Brüdern fehlen.

Ende Juni soll der Bundestag über den Gesetzesentwurf entscheiden. Für Familien wie die von Abdulaziz und Youlia bedeutet das vor allem eines: weiter warten. Wann sie wieder vereint sein können, bleibt offen.