
Israels Reservisten Verweigerer werden für Israel zum Problem
Immer mehr Reservisten verweigern den Dienst in der israelischen Armee. Mehr als 100.000 sollen es sein. Einige stellen sich öffentlich gegen den Krieg. Für die Regierung hat das Folgen.
Israels Armee ist auf ihre Reservisten angewiesen, und seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 hat sich gezeigt, wie wichtig sie sind. Frauen und Männer können in Israel nach Ihrem Militärdienst noch bis zum 40. Lebensjahr zum Reservedienst eingezogen werden, Offiziere auch darüber hinaus. Fast 300.000 Reservisten wurden nach dem 7. Oktober nach Angaben der Armee eingezogen, viele über Monate, auch mehrfach.
Doch inzwischen wird die Weigerung vieler Reservisten, in den Krieg zu ziehen, zum Problem. Die genauen Zahlen sind unter Verschluss - doch israelische Medien berichten über die größte Verweigerungswelle seit Jahrzehnten.
Von mehr als 100.000 Verweigerern ist die Rede. Überprüfen lässt sich das nicht. Was man weiß, ist, dass einige Soldaten Briefe veröffentlicht haben - darunter Reservisten der Luftwaffe, der Marine und von Spezialeinheiten der Aufklärung.
Erschossene Geiseln
Es sind nur wenige Soldaten, die mit ihrem Namen und ihrem Bild an die Öffentlichkeit gehen: Michael Ofer Ziv, ein 29-Jähriger aus Tel Aviv hat einen Brief unterschrieben und erklärt, nicht mehr zum Reservedienst zu erscheinen. Er habe schon früh das Gefühl gehabt, in einem falschen Krieg zu kämpfen, sagt er dem ARD-Studio Tel Aviv. Schon Ende 2023 sei das so gewesen.
Damals, Mitte Dezember, erschossen israelische Soldaten drei verschleppte Geiseln. "Ein Kriegsziel war ja, dass wir die Geiseln frei bekommen wollten. Und damals haben wir schon darüber gesprochen, dass militärischer Druck die Geiseln in Gefahr bringt. Und das war der Beweis dafür: Militärischer Druck bringt die Geiseln um. Wir haben drei Geiseln getötet", sagt Ofer Ziv.
Es seien drei Jungs mit einer weißen Fahne gewesen, die auf Hebräisch um Hilfe gerufen hätten. "Und trotzdem wurde die Entscheidung getroffen, sie zu erschießen." Das sei ein Weckruf für ihn gewesen, erklärt Ofer Ziv: "Kein Soldat wurde dafür zur Rechenschaft gezogen. Und ich habe gedacht, dass es sehr ähnliche Fälle gibt, bei denen die Opfer Bewohner des Gazastreifens sind - und von denen wir nie etwas gehört haben." Da habe er gedacht: "Wir sind zu weit gegangen. Wir erlauben uns, Dinge zu tun, die nicht mehr zu rechtfertigen sind. Deshalb habe ich den Brief unterschrieben."
Viele fürchten um die Geiseln
Der Krieg im Gazastreifen, den Israel am 18. März wiederaufgenommen hat, bringe die immer noch verschleppten 59 Geiseln nicht frei, sondern bringe sie in Gefahr - dieser Meinung sind viele, die jetzt verweigern.
Tatsächlich konnte Israel auf militärischem Weg nur acht Geiseln aus dem Gazastreifen befreien. Rund 150 sind während Phasen der Waffenruhe freigekommen. Israels Armee hat aber auch etliche Geiseln tot im Gazastreifen geborgen. Einige wurden von Terroristen getötet, andere starben bei israelischen Angriffen.
"Graue Verweigerung" und grundsätzliche Ablehnung
Viel ist in Israel inzwischen auch die Rede von der "grauen Verweigerung" durch Soldaten, die sich nicht öffentlich erklären und nicht unbedingt politische Motive für die Verweigerung haben. Viele sind erschöpft vom Krieg oder traumatisiert, vermutlich verweigern etliche auch auch aus ökonomischen Motiven. Viele Reservesoldaten beklagen einer amtlichen israelischen Erhebung zufolge Einkommensverluste seit dem 7. Oktober.
Und dann gibt es noch die, die den Krieg ganz grundsätzlich ablehnen. Die den totalen Sieg über die Hamas, den Israels Premier Benjamin Netanjahu zum Kriegsziel erklärt hat, für eine Illusion halten und das Leid der palästinensischen Bevölkerung in Gaza für zu groß.
So sieht es Nadav Weiman, der Direktor der israelischen Nichtregierungsorganisation Breaking the Silence, die Berichte von ehemaligen Soldaten zusammenträgt, die die Besatzung palästinensischer Gebiete durch Israel ablehnen.
"Es gibt viel Zerstörung aber auch Rache. Soldaten haben uns berichtet, dass sie Befehle bekommen haben, Rache an Ortschaften zu nehmen, zu zerstören und zu töten. Es ist ja bekannt, dass wir unsere eigenen Geiseln töten, dass wir Hilfslieferungen blockieren - das ist kollektive Bestrafung gegen Zivilisten", meint Weiman. Israel greife Krankenhäuser, Krankenwagen und Hilfskräfte an. "Gerade erst haben wir 15 Einsatzkräfte im südlichen Gazastreifen getötet."
Nervosität in der Regierung
"Wenn man das sieht, dann geht es nicht darum, die Hamas zu bekämpfen, es geht darum, in Gaza zu kämpfen." Es sei ein Krieg, der Netanjahu beschützen soll, damit er nicht ins Gefängnis müsse, so Weiman. "Warum töten wir? Für diese rechtsextreme Regierung. Die Siedler in der Regierung wollen Gaza wiederbesiedeln. Und sie wollen die Menschen von Gaza umsiedeln." Das sei ein furchtbares Verbrechen.
Israels Armee veröffentlicht keine Zahlen zum Ausmaß der Verweigerung. Aufschlussreich für die Nervosität, die das Thema in der israelischen Regierung inzwischen verursacht, sind jedoch Äußerungen von Premier Netanjahu. Er sagte vor ein paar Tagen, es handele sich um eine laute Minderheit, um Anarchisten, die von ausländischen Nichtregierungsorganisationen unterstützt würden.