Ein Landwirt spritzt sein Kartoffelfeld mit einem Pestizid.
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Veraltete Risikobewertung Problematische Pflanzenschutzmittel weiter erhältlich

Stand: 04.06.2025 06:43 Uhr

In der EU dürfen viele Pestizide vermarktet werden, obwohl für sie keine aktuelle Überprüfung der Umweltrisiken vorliegt. Das geht aus einer Analyse im Auftrag von Umweltschützern hervor. Hintergrund ist eine umstrittene EU-Regelung.

Von Nick Schader, SWR

Fast 90 Prozent der 2023 in Deutschland verkauften Menge an Pflanzenschutzmitteln enthielt Wirkstoffe, für die es keine aktuelle Risikobewertung gab. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse, die der Verein "Umweltinstitut München e.V." in Auftrag gegeben hat. Die Untersuchungsergebnisse liegen dem SWR exklusiv vor.

Demnach waren im Jahr 2024 rund 70 Prozent der chemisch-synthetischen Wirkstoffe weiterhin auf dem Markt, obwohl ihre EU-Zulassung zum Teil schon vor vielen Jahren abgelaufen ist. Nur aufgrund einer umstrittenen Ausnahmeregelung der EU dürfen die Mittel weiterverkauft werden.

"Technische Verlängerung" als Hintertür?

Hintergrund ist die sogenannte technische Verlängerung, eine EU-Regelung, die ursprünglich als Ausnahme gedacht war, aber mittlerweile fast zum Regelfall bei Pflanzenschutzmitteln geworden ist. Diese Sonderregel greift dann, wenn die Zulassung für einen Pestizid-Wirkstoff in der EU endet - häufig nach zehn Jahren. Für eine normale Verlängerung oder eine Neuzulassung müssten die Inhaltsstoffe laut Gesetz einer neuen Risikobewertung unterzogen werden - dabei würden auch neue Erkenntnisse über mögliche Umweltgefahren der Stoffe einfließen.

Doch die Praxis sieht anders aus, das geht aus der Analyse im Auftrag der Umweltschützer hervor. Denn wenn die zuständigen Behörden bis zu einer gewissen Frist keine endgültige Risikobewertung vorlegen können, darf eine "technische Verlängerung" erteilt werden - und zwar ohne neue Risikobewertung.

Laut der Auswertung gab es seit dem Jahr 2011 mehr als 1.300 dieser Verlängerungen für Pestizidwirkstoffe. Das Umweltinstitut München kritisiert diese Praxis deutlich: "Technische Verlängerungen waren als Ausnahme gedacht - sie sind aber zur Regel geworden. Das ist kein Versehen, das ist ein systematischer Missbrauch, der dazu führt, dass das Vorsorgeprinzip ausgehöhlt wird."

Aus Sicht von "Crop Life Europe" liegt die Schuld daran bei den zu trägen EU-Behörden, wie der Hersteller-Verband dem SWR mitteilt: "Dies ist ein Symptom für die mangelhafte Umsetzung bestimmter Aspekte der Verordnung, die es nicht schafft, den EU-Landwirten innerhalb der vorgeschriebenen Fristen ausreichende Pflanzenschutzlösungen bereitzustellen."

Klagen der Umweltverbände

Die Praxis der "technischen Verlängerungen" ist umstritten. Es laufen bereits mehrere Klagen von Umweltverbänden aus Deutschland und anderen Ländern, vor nationalen Gerichten und auch dem EU-Gericht. Dort wird in Kürze ein Urteil hierzu erwartet.

Die Umweltverbände kritisieren, dass die Ausnahmeregelung auch für Wirkstoffe genutzt werden, deren schädliche Wirkung für Mensch und Umwelt längst erwiesen sei. Diese Umweltrisiken würden bei einer technischen Verlängerung weitestgehend ignoriert. Die Auswertung des Umweltinstituts belegt das an zahlreichen Beispielen.

Zulassung trotz Umweltgefahr

Der Herbizid-Wirkstoff "Flufenacet" zum Beispiel hatte ursprünglich nur eine Zulassung bis Ende 2013 - darf aber aufgrund ständiger Verlängerungen immer noch verkauft werden. Dabei ist seit rund sieben Jahren bekannt, dass die Abbauprodukte hochproblematisch sind. Sie gehören zur Gruppe der PFAS und gelten als "Ewigkeitschemikalien", die Mensch und Umwelt gefährden und biologisch nicht abgebaut werden können.

Erst vor wenigen Wochen hat die EU entschieden, dass der Stoff ab 2026 nicht mehr vermarktet werden darf. Laut der Analyse des Umweltinstituts wurden allein in der Zeit der Verlängerungen mehr als 6.700 Tonnen dieses Herbizids auf deutsche Felder gesprüht.

Auch die Zulassung für das Getreide-Herbizid "Chlortoluron" wurde mehrfach verlängert - über nunmehr etwa zehn Jahre. Dabei steht das Mittel im Verdacht krebserregend zu sein. Zudem ist der Stoff sehr toxisch für Wasserorganismen und kann hormonelle Veränderungen beim Menschen auslösen.

Seit der ersten Verlängerung im Jahr 2016 wurden mehr als 6.500 Tonnen von deutschen Landwirten verwendet, schreibt das Umweltinstitut in seiner Analyse, und warnt: "Der Missbrauch technischer Verlängerungen gefährdet Böden, Wasser und Gesundheit. Pestizide, deren Risiken unklar oder längst bekannt sind, dürfen jahrelang weiter eingesetzt werden."

Insgesamt führt die Analyse zahlreiche Pflanzenschutz-Wirkstoffe auf, deren negative Umweltauswirkungen als erwiesen gelten, die aber aufgrund der technischen Verlängerung in der EU weiterhin vermarktet werden dürfen.

Schnellere Verfahren als Lösung?

Schuld daran sind aus Sicht des Bundesumweltministeriums (BMUKN) vor allem die zu langen Prüfungsverfahren: "Das BMUKN sieht die langen Bearbeitungszeiten der Überprüfung von Wirkstoffen auf EU-Ebene kritisch. Wir setzen uns daher gemeinsam mit dem federführenden BMLEH auf EU-Ebene dafür ein, dass die betroffenen Verfahren schnellstmöglich abgeschlossen werden."

Der "Industrieverband Agrar", in dem Agro-Chemie-Unternehmen zusammengeschlossen sind, teilt auf Anfrage des SWR mit, dass aus seiner Sicht die Zulassungsverlängerungen nötig seien "im Sinne einer nahtlosen Verfügbarkeit von Pflanzenschutz-Lösungen". Bei "Hinweisen auf ein bisher unbekanntes Gefährdungspotenzial" könnten die zuständigen Behörden "jederzeit entsprechende Sofortmaßnahmen ergreifen". Die Sicherheit der Produkte sei "zu jedem Zeitpunkt gewährleistet".

Kritischer äußert sich das Umweltbundesamt: "Dass sich die Wiedergenehmigungsverfahren mancher Wirkstoffe zu lange hinziehen und die zugelassenen Produkte unter Umständen nicht dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik entsprechen, halten wir mit Blick auf das Erreichen der Umweltschutzziele für problematisch."