
Brandsätze in Luftfracht Russischer Geheimdienst soll hinter Sabotage stecken
Ermittler haben die mutmaßlich Beteiligten an Brandsätzen in Luftfracht identifiziert. Nach Recherchen von WDR, NDR und SZ gab es auch in Deutschland eine Durchsuchung. Der russische Geheimdienst GRU soll "Wegwerf-Agenten" eingesetzt haben.
Es dauert fünf Tage, dann herrscht hinter den Kulissen helle Aufregung. Am 20. Juli 2024 geht am Flughafen Leipzig ein Versandpaket in Flammen auf. Am Tag darauf ein ähnliches Szenario bei Warschau. Und schließlich brennt ein Paket in Birmingham, wo man den rußigen Schrott zunächst ohne Hintergedanken auf den Müll wirft.
Doch dann erkennen Brandermittler und Sicherheitsbehörden den Zusammenhang und zählen eins und eins zusammen. Bereits am 25. Juli 2024 ahnen wohl zumindest die Spezialisten der Anti-Terroreinheit der britischen Metropolitan Police: Europa könnte knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sein.
Kurz zuvor hatte ein Mann am Flughafen Vilnius gewöhnlich wirkende Pakete zur dortigen DHL-Paketstation gebracht. Am Verkaufstresen sollte er offenbar die Fracht öffnen und vorzeigen. Doch die Massagekissen, Kosmetiktuben und ein Sexspielzeug darin erweckten keinen Verdacht. Auch beim Routine-Scan: kein Alarm. Niemand entdeckte die Zeitzünder und Brandmittel. Somit nahm eine der spektakulärsten Geheimdienstoperationen der vergangenen Jahre ihren Lauf. Noch immer wird in mehreren europäischen Ländern ermittelt.
Netzwerk aus zehn Akteuren
Nach Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung gehen europäische Sicherheitsbehörden davon aus, dass hinter der länderübergreifenden Operation der russische Militärgeheimdienst GRU steckt. Europäische Sicherheitsbehörden nehmen demnach an, dass in die Aktion ein Netzwerk von rund zehn Personen involviert war.
Die Reporter konnten mehrere Verdächtige in dem vertraulich geführten Ermittlungsverfahren identifizieren. Dazu gehören hochrangige mutmaßliche GRU-Mitarbeiter. Die russische Botschaft in Berlin bestreitet, dass Moskau hinter den Vorfällen steckt und spricht von "Paranoia" und "Verschwörungstheorien".
Pakete mit Brandsätzen auch für die USA?
Im Mittelpunkt der internationalen Ermittlungen stehen mehrere Pakete: Zwei dieser Pakete sollten von Litauen aus nach Polen verschickt werden, zwei weitere sollten von Litauen aus nach Großbritannien gehen. Eines der Pakete mit Ziel London ging bei einer Zwischenlandung in Leipzig in Flammen auf. Eines der beiden für Polen bestimmten Pakete konnte von den Ermittlungsbehörden abgefangen werden. Diese vier Pakete sollen jeweils auf Magnesium basierende Brandsätze enthalten haben.
Doch die Operation war offenbar noch nicht zu Ende. Zwei weitere Pakete beschäftigen die Ermittler: Anfang August 2024 soll ein Mann von Warschau aus ein Paket in die USA und eines nach Kanada verschickt haben. Dieses Mal aber noch ohne Brandsatz. Es enthielt den Recherchen zufolge harmlose Turnschuhe, T-Shirts und angeblich einen Tracker.
Die polnische Staatsanwaltschaft glaubt, dass die Gruppe den "Transportweg für solche Sendungen" prüfen wollte. Seither fragen sich europäische Sicherheitsbehörden, ob auch Brandsätze in die USA geschickt werden sollten. Ein Foto des Brandes am Leipziger Flughafen, das WDR, NDR und SZ vorliegt, zeigt, wie gefährlich es gewesen wäre, wenn diese Pakete während des Fluges im Frachtraum Feuer gefangen hätten. Dass dies nicht passierte, war den Recherchen zufolge bloß Zufall.
Offiziell halten sich die Behörden weiterhin bedeckt, und das, obwohl die Ermittler in Polen, Deutschland, England und Litauen weit vorangekommen sind.
Durchsuchung in ostdeutscher Großstadt
Eine der Spuren führt den Recherchen zufolge auch zu einem Ukrainer in eine ostdeutsche Großstadt. Bei ihm durchsuchten die Ermittler im Februar die Wohnräume. Er soll mit dem Mann Kontakt gehabt haben, dem vorgeworfen wird, in Litauen die Pakete mit den Brandsätzen abgeschickt zu haben.
Den Mann in Litauen kenne er nicht persönlich, erzählte der Ukrainer den Reportern von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung. Er sagt: Ein Bekannter habe ihn gebeten, diesem Litauer via Telegram zu schreiben, dass ein Paket verloren gegangen sei. Wozu diese Nachricht dienen sollte, wisse er nicht. Er habe nie mit einem tatsächlichen Paket zu tun gehabt. Der Ukrainer gilt nicht als Beschuldigter.
Ukrainer angeworben?
Russland soll laut Sicherheitskreisen den Paket-Plot über eine Art Agenten-Pyramide umgesetzt haben, bei der Hand in Hand gearbeitet worden sein soll: Ein weiterhin gesuchter Russe soll demnach über das Internet einen 27-jährigen Ukrainer aus dem polnischen Kattowitz angeworben haben. Dieser Mann ist bereits festgenommen.
Wie Gerichtsdokumente belegen, war der Mann im April 2023 in Polen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten wegen Geldwäsche und Cyberbetrugs verurteilt worden. Weil das Urteil im Sommer 2024 aber noch nicht rechtskräftig war, war er auf freiem Fuß. Am Telefon erzählte seine Mutter den Reportern, ihr Sohn habe in jenem Sommer wohl mehrere Aufträge angenommen. Aber "nichts Schlimmes", soll er auf ihre Nachfrage versichert haben.
Ausgedachte Firmenadressen in London und Birmingham
Doch die Ermittler glauben, dass ihr Sohn tatsächlich Teil der heiklen Operation geworden ist. Er sollte zunächst mit einem Auto von Polen nach Litauen fahren. Dort habe man ihn aufgefordert, mehrere Pakete aus dem Kofferraum zu nehmen und die jeweiligen Zeitzünder zu aktivieren. Schließlich soll der junge Ukrainer die Pakete an den Litauer Aleksandr S. übergeben haben. Die polnische Zeitung "Wyborcza" hatte darüber zuerst berichtet.
Unter einem falschen Namen soll S. dann am 19. Juli 2024 den Recherchen zufolge zwei unversicherte Pakete für 109 Euro Versandkosten mit DHL an ausgedachte Personen- oder Firmenadressen in London und Birmingham verschickt haben. Hinzu kamen offenbar noch zwei Pakete über den Versanddienst dpd, die das Ziel Polen hatten. DHL bestätigte die beiden Vorfälle und sprach von verstärkten Sicherheitsmaßnahmen. Von dpd gab es keine Auskunft darüber, ob das Unternehmen betroffen war.
Keine professionellen Agenten
Sowohl der Ukrainer, der die Brandsätze scharf gestellt haben soll, als auch der Litauer Aleksandr S., der mutmaßliche Versender der Pakete, wurden schnell verhaftet. Dasselbe gilt für den Ukrainer Viacheslav C., der die sogenannten Testpakete in die USA und nach Kanada verschickt haben soll. Den Männern wird nun vorgeworfen, sich an Sabotage-Aktivitäten des russischen Staates beteiligt zu haben, auch wenn sie womöglich als "Wegwerf-Agenten" ausgenutzt wurden.
Als "Wegwerf-Agenten" oder "Low Level"-Agenten werden Personen bezeichnet, die keine offiziellen Mitarbeiter eines Geheimdienstes sind. Solche Personen werden oft über Messengerdienste wie Telegram angeworben, um für einen geringen Geldbetrag eine vielleicht harmlos erscheinende Aufgabe zu erfüllen. Russland soll seit einigen Jahren verstärkt auf diese Methode setzen, da Hunderte professionelle Spione nach dem Start des russischen Angriffskrieges ihre Botschaftsposten verlassen mussten. Zudem dient der Einsatz der "Wegwerf-Agenten" dazu, die eigentlichen Urheber zu verschleiern.
GRU-Oberst unter Verdacht
Doch die Ermittler sind offenbar nicht nur den ganz einfachen Agenten, sondern auch möglichen Planern auf die Spur gekommen: Der Russe Aleksandr B. war Ende 2024 in Bosnien-Herzegowina festgenommen worden. Laut der lokalen Polizei wurde er verdächtigt, auf dem Balkan Moldawier für Proteste in ihrer Heimat ausgebildet zu haben. Im Februar wurde er nach Polen ausgeliefert. Die polnische Staatsanwaltschaft wirft ihm die "Koordinierung von Sabotageakten" vor. Dazu gehöre unter anderem das Versenden von Kurierpaketen mit Brandmaterial.
In die Sabotage-Operationen soll laut westlichen Nachrichtendiensten auch ranghohes GRU-Personal eingebunden gewesen sein: Im Verdacht steht unter anderem der GRU-Oberst Denis Smolyaninov. Im Dezember 2024 wurde er von der Europäischen Union sanktioniert. In der veröffentlichten Begründung heißt es, dass Smolyaninov über soziale Medien "Agenten für Sabotageakte in der Union" rekrutiere.
Luftverkehr im Visier
Smolyaninov war offenbar schon länger damit befasst, wie der internationale Luftverkehr angegriffen werden kann. Bereits 2014 soll ihm intern berichtet worden sein, wie der russische Militärgeheimdienst insbesondere den zivilen Luftverkehr stören könnte.
Das geht aus Dokumenten hervor, die dem vom Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski finanzierten Recherchezentrum "Dossier Center" vorliegen und die WDR, NDR und SZ auswerten konnten. Sie zeigen, dass Moskaus Geheimdienstler bereits vor Jahren erörtert haben, wie sich im Luftverkehr immense Schäden verursachen lassen.
Unter anderem wird in dem Papier beschrieben, wie der Funk zwischen Piloten und Bodenpersonal gestört und wie das sogenannte Instrumentenlandesystem (ILS) behindert werden kann. Das System wird von Passagierflugzeugen standardmäßig zum Landen genutzt. Piloten und Tower sollen einander nicht mehr hören, sondern verwirrt werden. Eingeübte Routinen sollen so versagen.
Als Folge könnten die Maschinen um- oder fehlgeleitet werden. Europäische Flüge scheinen tatsächlich in den vergangenen Jahren immer stärker ins Visier zu geraten. So treten seit einiger Zeit vermehrt umfangreiche GPS-Störungen des Flugverkehrs auf, unter anderem auch in Norddeutschland.
Menschenleben in Gefahr
Immer mehr Sicherheitsbehörden warnen vor den Gefahren für den Luftverkehr infolge von Sabotageaktionen. "Leben von Menschen interessieren sie nicht", sagte etwa Darius Jauniškis, langjähriger Chef des litauischen Geheimdienstes VSD, im Interview. "Ein Flugzeug runterzuholen ist akzeptabel für sie."
BND-Präsident Bruno Kahl befürchtet, dass nicht mehr davor zurückgescheut werde, "Menschenleben zu gefährden oder ganz gezielt auch aufs Spiel zu setzen".
Die Serie der versteckten Brandsätze in den Versandpaketen stoppte offenbar im vergangenen Jahr. Unter anderem sollen Verantwortliche aus den USA gegenüber Russland deutlich gemacht haben, dass sie wüssten, wer dahinterstecke - und dass keine weitere Eskalation geduldet würde. Schon gar nicht bei Flügen nach Nordamerika. Russland hatte da aber vielleicht schon erreicht, worauf es abzielte: mit äußerst geringen Mitteln aufzuzeigen, wie verwundbar der Westen ist.
Mehr zum Thema sehen Sie in der ARD-Story "Sabotage - Deutschland in Putins Visier" heute um 22.50 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek.