
Lückenhafte Statistik Wenn Müttersterben unsichtbar bleibt
Deutschlands Geburtsmedizin schneidet im internationalen Vergleich offiziell gut ab - doch viele mütterliche Todesfälle tauchen laut BR und Spiegel gar nicht in der Statistik auf. Das hat Folgen für Prävention und Versorgung von Frauen.
"Wir wollten das nicht wahrhaben", erinnert Firat Dursun aus Lüdenscheid. "Sie lag einfach so da, als würde sie schlafen." Zwei Wochen vorher war Firat Dursuns Schwester Zehra B. mit Wehen in die Klinik gefahren. Ihre Tochter kam gesund zur Welt, doch sie hatte nach der Geburt viel Blut verloren, musste notoperiert werden.
Laut Krankenunterlagen besteht der Verdacht, dass sich die Plazenta nicht vollständig abgelöst hat. Nach der OP fällt die junge Frau ins Koma. Am 27. Dezember 2024 stirbt Zehra B. auf der Intensivstation.
WHO definiert Müttersterblichkeit
Dass Frauen wie Zehra B. im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Geburt versterben, ist in Deutschland ein seltenes Ereignis. Etwa 25 - 30 Fälle von Müttersterblichkeit werden laut Bundesamt für Statistik pro Jahr erfasst.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Müttersterblichkeit als den Tod einer Frau im Zusammenhang mit der Schwangerschaft oder der Geburt bis zu 42 Tage nach der Entbindung.
Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe sieht die niedrige Müttersterblichkeitsrate in Deutschland als Ausdruck einer guten Versorgung. Doch ob die Zahlen die Realität wiedergeben, ist fraglich.
In Berlin mehr Todesfälle als angenommen
Allein in Berlin sind im Untersuchungszeitraum mehr als doppelt so viele Mütter im Zusammenhang mit Schwangerschaft oder Geburt verstorben, wie im bisher bekannten bundesweiten Durchschnitt. Das zeigt eine Studie, an der die Oberärztin Josefine Königbauer von der Geburtsklinik der Berliner Charité mitgewirkt hat. "Viele Fälle tauchen nicht in der Statistik auf", sagt Königbauer.
Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat Königbauer die Zahlen für Berlin überprüft. So kamen die Wissenschaftler auf 9,1 verstorbene Frauen pro 100.000 Geburten statt der offiziell erfassten 3,4 verstorbenen Frauen pro 100.000 Geburten.
Von 2019 bis 2022 haben die Forschenden 2.316 Totenscheine von Frauen im gebärfähigen Alter ausgewertet, die in Berlin verstorben sind. In intensiven Gesprächen mit denjenigen, die die Totenscheine ausgefüllt hatten, kamen Fälle von Müttersterblichkeit ans Licht, die bislang nicht als solche identifiziert worden waren, sagt Königbauer.
Einige Müttersterbefälle könnten verhindert werden
Die lückenhafte Dokumentation ist mehr als ein statistisches Problem. "Wir sollten diesen Fällen bundesweit mehr Aufmerksamkeit schenken", sagt die Geburtsmedizinerin. "Jeder Einzelfall ist ein schweres Schicksal, das wir dokumentieren müssen, um daraus zu lernen."
Tatsächlich zeigen Studien, dass Frauen auch in hochentwickelten Ländern wie in Deutschland besser medizinisch versorgt werden könnten und einige mütterliche Sterbefälle potenziell verhindert werden können. So war es auch bei 19 Müttersterbefällen, die das Team rund um Königbauer näher analysiert hat. "Etwa 40 Prozent der untersuchten Fälle wären vermutlich vermeidbar gewesen", sagt Königbauer.
Uneinheitliche Datenerfassung
Wirksame Prävention setze aber saubere Dokumentation voraus, so die Geburtsmedizinerin. Und die scheint aus mehreren Gründen in Deutschland nicht gegeben, wie eine Abfrage von BR und Spiegel unter den Statistischen Landesämtern zeigt. Demnach variiert die Erfassung mütterlicher Todesfälle von Bundesland zu Bundesland. In Bayern lässt sich auf dem Totenschein erkennen, ob ein Todesfall mit einer Schwangerschaft in Verbindung steht. In Sachsen-Anhalt hingegen werden diese Informationen gar nicht abgefragt. Von dort heißt es, dass "ggf. nicht alle Müttersterbefälle vollständig erfasst würden". Das Saarland schreibt, es sei "nicht bekannt", ob die Müttersterblichkeit dort vollständig erfasst sei.
Fälle von Müttersterblichkeit in Kliniken werden in Deutschland zusätzlich vom Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen erfasst. Die Daten sollen unter anderem helfen, Abläufe in den Kliniken zu verbessern. Auch hier ist zentral, dass die Fälle überhaupt gemeldet werden.
Schlechte Qualität der Dokumentation
Bei den Mitarbeitenden fehle oft ein Bewusstsein dafür, wie wichtig es sei, so Königbauer, die Müttersterblichkeit sauber zu dokumentieren. Allein in Berlin waren laut Josefine Königbauers Untersuchung fast zwei Drittel der Totenscheine unvollständig ausgefüllt, so fehlte beispielsweise der Hinweis auf eine vorhandene Schwangerschaft.
So scheint es auch bei Firat Dursuns Schwester in Lüdenscheid gewesen zu sein: Laut Unterlagen, die BR und Spiegel vorliegen, wurde auf dem Totenschein vom Personal nicht im dafür vorgesehenen Feld angekreuzt, dass Zehra B. kürzlich schwanger war. Das Klinikum äußert sich auf Nachfrage des Spiegel und BR nicht zu den Gründen und beruft sich auf die ärztliche Schweigepflicht.
Zentrales Register zu Müttersterblichkeit gefordert
"Diese Katastrophen sind glücklicherweise sehr selten, deswegen müssen wir retrospektiv aus den wenigen Ereignissen Erkenntnisse ziehen", sagt Wolfgang Henrich, Leiter der Geburtsklinik der Berliner Charité. So könne man künftig die Anzahl dramatischer Verläufe verringern. Man müsse aber auch akzeptieren, dass manche Schicksale nicht vermeidbar seien.
Die Qualität der geburtshilflichen Versorgung sei insgesamt sehr hoch - aber: "Es dürfte eine unvollständige Dokumentation und nicht erfasste Todesfälle im Rahmen von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in Deutschland geben", vermutet Henrich. Er fordert ein zentrales Register für Müttersterblichkeit in Deutschland. Auch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe schreibt auf Anfrage, das Thema werde in Deutschland "stiefmütterlich" behandelt. Man sehe dringlichen politischen Handlungsbedarf.
Im Fall Zehra B. ermittelt die Staatsanwaltschaft
"Was uns widerfahren ist, wünsche ich niemandem", sagt Firat Dursun. Bis heute hat seine Familie viele offene Fragen: Was ist genau passiert und warum musste Zehra sterben? Für Aufklärung wolle er bis zuletzt kämpfen, sagt Dursun. Ein medizinisches Gutachten ist derzeit in Arbeit und soll das klären.
Die Lüdenscheider Klinik beantwortet auf Anfrage von BR und Spiegel nicht alle Fragen zu den Vorgängen. Die ärztliche Schweigepflicht gehe über den Tod hinaus. Und es laufe ein Ermittlungsverfahren, dessen Ausgang abgewartet werden müsse.
Laut der zuständigen Staatsanwaltschaft wird gegen Mitarbeitende des Klinikums wegen des Verdachtes der fahrlässigen Tötung ermittelt. Ob Zehras Tod hätte verhindert werden können, müssen am Ende Gutachter und Gerichte klären.