
Schleswig-Holstein Merz' Koalition: Sprachlehrerin entsetzt, Unternehmer hoffnungsfroh
Eine Wende hat die neue Bundesregierung versprochen: vor allem in der Migrations- und Wirtschaftspolitik. Wir haben Menschen in Schleswig-Holstein besucht und sie nach ihrem ersten Eindruck der Regierungspolitik gefragt.
Das war ein ruckeliger Start, den Friedrich Merz da Anfang Mai im Bundestag hingelegt hat: Zum Kanzler hat es erst im zweiten Wahlgang gereicht. Eine historische Niederlage. Dazwischen Stunden der Unsicherheit und des Ringens um die notwendige Mehrheit. Dabei wollte diese neue Regierung doch genau ein anderes Bild vermitteln: ein Gegenbild zum Dauerstreit der Ampel-Regierung. Nun ist gut ein Monat vergangen und die neue Koalition aus Union und SPD bemüht sich, in zentralen Themen noch vor der Sommerpause Erfolge präsentieren zu können.
Vor allem in der Wirtschafts- und in der Migrationspolitik hat Merz vor der Wahl nicht weniger als eine Wende versprochen. Noch im Wahlkampf haben wir Menschen in Schleswig-Holstein besucht, die in ihren Fachbereichen ihre Erwartungen und Hoffnungen an eine neue Regierung geschildert haben. Nun, vier Monate später, sind wir erneut hingefahren: Was halten sie vom Koalitionsvertrag und den ersten Wochen der neuen Regierung? Hat sich die Stimmung verändert?
Der Familienunternehmer
Voigt-Logistik aus Neumünster hat schon viele Kanzler und eine Kanzlerin kommen und gehen sehen. Hannes Voigt ist Logistik-Unternehmer in vierter Generation. Sein Urgroßvater hat das Unternehmen vor fast hundert Jahren gegründet - damals noch mit Pferdewagen. Inzwischen ist der Mittelständler das größte Speditionsunternehmen Schleswig-Holsteins - und die Lkw rollen die Ware durch ganz Deutschland. Voigt beschreibt seine Branche als eine Art Puls der Wirtschaft: Wenn weniger produziert wird, hat Voigt auch weniger zu tun. Und das war in den vergangenen Jahren deutlich zu verzeichnen: ein Minus von etwa zehn bis 20 Prozent, schätzt Geschäftsführer Hannes Voigt.

Optimistisch: Unternehmer Hannes Voigt spürt Aufwind für die Wirtschaft.
Hoffnung auf Know-How aus der Praxis im Ministerium
Damit ist er nicht allein: Drei Jahre ohne Wachstum - das hat die Wirtschaft der Bundesrepublik noch nie erlebt. Auf der neuen Bundesregierung lastet ein enormer ökonomischer Druck. Bürokratiehürden, Fachkräftemangel, maue Konjunktur, schlechte Arbeitsmoral: Noch im Januar hatte Hannes Voigt die Lage recht düster geschildert. Nun zeigt er sich hoffnungsvoll.
Ich habe eine Regierung mit Wirtschaftskompetenz gefordert und da habe ich definitiv das Gefühl, erhört worden zu sein."
— Hannes Voigt, Logistik-Unternehmer
Die Hoffnung auf Wirtschaftskompetenz bezieht er vor allem auf die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche. Die CDU-Politikerin war bis vor Kurzem noch Chefin von Westenergie, einer Tochter des Energieversorgungsunternehmens E.on. "Das ist jemand, der versteht, wie Unternehmen funktionieren, was der Mittelstand braucht. Das hätte ich mir gar nicht besser wünschen können. Hoffentlich setzt sie jetzt auch die richtigen Impulse."
So soll die Wirtschaftswende gelingen
Im 146 Seiten dicken Koalitionsvertrag von Union und SPD steht "Neues Wirtschaftswachstum" gleich am Anfang: "Unser Ziel ist es, das Potenzialwachstum wieder auf deutlich über ein Prozent zu erhöhen. Das wird unsere klare Priorität." Mehr Wachstum hatte allerdings auch schon die Ampel versprochen - ohne Erfolg. Nun will es Merz' Koalition besser machen und setzt dabei auf vier Schwerpunkte: Firmen sollen mehr investieren, Bürger und Bürgerinnen mehr arbeiten, Energiepreise sollen sinken und die Bürokratie zurückgedrängt werden.
Kampf gegen Bürokratie
Alles richtige Punkte aus Sicht von Logistik-Unternehmer Voigt. "So könnte eine Wende gelingen", sagt er. Gerade bei der Bürokratie hätten Maßnahmen wie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz einen enormen Aufwand für sein Unternehmen bedeutet. Die neue Regierung will das Gesetz abschaffen und bürokratische Hemmnisse insgesamt bis Ende des Jahres reduzieren. "Da können sie jetzt wirklich liefern und stärker auf Eigenverantwortung der Unternehmen setzen", so Voigt.
Investitionen fördern
Der wichtigste Reformbereich aber sind die Investitionen: Denn 90 Prozent des Geldes, das in Deutschland investiert wird und dem Land Jobs und Wachstum beschert, stammen laut Wirtschaftsdaten von Unternehmen wie Voigt-Logistik. Doch zuletzt gaben Unternehmen nach Angaben des Instituts für Wirtschaftsforschung im Vergleich zu 2019 acht Prozent weniger Geld aus. Damit sich das ändert, plant die Regierung sogenannte Sonderabschreibungen. Hannes Voigt würde zum Beispiel gerne seine Flotte auf Elektro-Lkw umstellen. Dafür benötigt er Investitionen im sechsstelligen Bereich. Mithilfe der Abschreibungen sollen in den kommenden drei Jahren je bis zu 30 Prozent des Werts einer Investition von der Steuer abgesetzt werden können. "Das hilft uns sehr, einen Schritt zu wagen. Bislang sind es aber auch nur Ankündigungen, jetzt muss schnell umgesetzt werden", fordert Voigt. Laut Finanzminister Lars Klingbeil von der SPD soll dieser "Investitionsbooster" noch bis Ende Juni beschlossen werden.
Niedrigere Strompreise und leichterer Zuverdienst für Rentner
Damit die E-Lkw dann aber auch rentabel fahren, müsste aus Sicht von Voigt der Strompreis sinken. Und seinen Lastkraftwagen-Fahrern würde es helfen, wenn die Pläne der Regierung umgesetzt würden, nach denen Rentner bis zu 2.000 Euro steuerfrei im Monat dazuverdienen dürfen. Also, viel zu tun für die neue Regierung. Aber aus Sicht des Familienunternehmers Hannes Voigt aus Neumünster ist die Stimmung optimistisch.
Die Integrationslehrerin
Das sieht Katrin Stange knapp 60 Kilometer weiter südlich in Uetersen ganz anders. Die Sprach- und Integrationslehrerin sitzt in ihrem Übungsraum im Rathaus. Die Blätter vor dem Fenster sind inzwischen tiefgrün, ganz anders als noch im Januar, als wir sie und ihren Alphabetisierungskurs zum ersten Mal besucht haben. Von Aufbruch ist bei ihrer Stimmung wenig zu spüren - im Gegenteil.

Pessimistisch: Lehrerin Katrin Stange glaubt nicht, dass Integration so gelingen kann.
Was ich im Koalitionsvertrag zum Thema Migration lese, da kann ich nur von einer menschlichen Katastrophe sprechen."
— Katrin Stange, Sprach- und Integrationslehrerin
Familiennachzug gestoppt
Stange unterrichtet Schüler und Schülerinnen aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak in Deutsch. Schon vor der Wahl habe sie in ihren Kursen eine verstärkte Unsicherheit und auch Angst wahrgenommen - die habe sich gehalten. Insbesondere die Entscheidung der neuen Regierung, den Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte um weitere zwei Jahre auszusetzen, kritisiert Katrin Stange als "unmenschlich".
"Ich habe hier einen Vater von vier Kindern aus Syrien im Kurs. Der Mann hatte gehofft, die Kinder und seine Frau nachholen zu können. Es hätten noch ein paar Formalia gefehlt - und nun ist die Hoffnung geplatzt." Die Lehrerin, die sich auf kommunaler Ebene bei den Grünen engagiert, bezweifelt, dass so die Integration vorangetrieben werden kann und Menschen mit Migrationshintergrund leichter in den Arbeitsmarkt gelangen könnten. Dabei sieht sie genau an dem Punkt die größten Hemmnisse für eine gelingende Integration. "So entsteht doch keine Motivation, sich hier länger in unsere Gesellschaft einzubringen", zweifelt sie.
Schärfere Kontrollen an Deutschlands Grenzen
Eigentlich wollte Friedrich Merz mit der Union ja einen Wirtschaftswahlkampf führen, doch nach den Anschlägen in Magdeburg und Augsburg und wohl auch getrieben von den hohen Umfragewerten der AfD war die Migration letztlich eines der zentralen Themen. Das zeigt sich auch jetzt in den ersten Regierungswochen. Der neue Innenminister Alexander Dobrindt von der CSU hat noch am Tag seines Amtsantritts verschärfte Grenzkontrollen an den innerdeutschen Grenzen angewiesen. Katrin Stange bezweifelt die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme und ob sie rechtlich korrekt ist. Auch unter Juristen ist umstritten, ob Dobrindts Anweisung mit europäischem Recht konform ist. Laut Verwaltungsgericht Berlin ist zumindest die Zurückweisung Asylsuchender rechtswidrig.
Investitionen in Integration
Im Koalitionsvertrag heißt es, künftig solle mehr Geld in die Integration investiert werden: in Sprachkurse und in Lehrpersonal. Um darüber zu urteilen, ist es noch zu früh. Katrin Stange würde sich wünschen, dass dann auch die Qualität der Kurse stärker überprüft wird. Und das an dualen Ausbildungsmöglichkeiten für Menschen mit Einwanderungsgeschichte gearbeitet wird. "Lernen und arbeiten - das ist für mich der Schlüssel, um Integration und die Bedürfnisse des deutschen Arbeitsmarktes in Einklang zu bringen."
Migration als zentrales politisches Thema
Was sich Katrin Stange insgesamt von der Politik der kommenden vier Jahre wünschen würde: Migration dürfe nicht als "Ursprung allen Übels" hochgespielt werden. "Ja, Migration hat viele Herausforderungen. Aber das Überbetonen des Themas stiftet Unruhe und vermittelt ein Gefühl der Bedrohung", kritisiert sie auch die Bundespolitik. Das vermittele den falschen Eindruck, als ob, wenn die Migration eingegrenzt würde, auch die Mieten sinken, das Schulsystem besser und die Preise für Energie und Lebensmittel sinken würden. "Das ist ja falsch", so Stange. Sie sieht darin die Gefahr eines weiteren Rechtsrucks der Gesellschaft mit wachsender Gewaltbereitschaft - auch in Uetersen.
Dieses Thema im Programm:
Schleswig-Holstein Magazin | 03.06.2025 | 19:30 Uhr