
Hessen Freiwillige oft schneller als Rettungsdienst: Kreis Gießen zufrieden mit Ersthelfer-Projekt
Bei einem Herzinfarkt entscheiden Minuten über Leben und Tod. Hier setzt das Projekt Katretter an, mit dem Freiwillige zu Ersthelfern werden. Der Kreis Gießen nutzt es seit fünf Jahren - und will es nun technisch erweitern.
Wenn es um Leben und Tod geht, dann muss die Dusche auch mal warten: Es war ein Sonntagmorgen, Björn Kohlhaussen war noch in der Jogginghose und saß mit seiner Familie am Frühstückstisch, da ging der Katretter-Alarm auf seinem Smartphone los.
Sofort sprang er ins Auto und fuhr zu einem älteren Mann, den er bewusstlos vorfand. Unverzüglich begann er mit der Wiederbelebung – in diesem Fall leider erfolglos, wie er erzählt. Aber: Dass Kohlhaussen überhaupt da war, hat dem Patienten eine bessere Überlebenschance gegeben.
"Wenn Sie nichts tun, ist die Überlebenschance fast Null", sagt der ärztliche Leiter im Rettungsdienst des Landkreises Gießen, Nils Lenz: "Jeder, der anfängt zu drücken, erhöht die Überlebenschance des Menschen, der einen Herzkreislaufstillstand erlitten hat."
Kanpp 500 Katretter im Landkreis Gießen

Nils Lenz
Als Rettungsdienstleiter koordiniert Lenz die 489 Katretter, zu denen auch Björn Kohlhaussen gehört. Katretter sind freiwillige Ersthelfer bei gesundheitlichen Notfällen. Das heißt: Wenn ein Notruf bei der zentralen Einsatzleitstelle im Landkreis Gießen eingeht, werden sie zusätzlich zum Rettungswagen alarmiert - in der Hoffnung, dass sie noch schneller vor Ort sind.
Katretter kann jeder werden, der mindestens 18 Jahre ist und im vorigen Jahr einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht hat. Im Landkreis Gießen sind aktuell viele Feuerwehrleute, Rettungsdienstmitarbeiter und Klinikmitarbeiter als Katretter angemeldet.
Auch Björn Kohlhaussen arbeitet hauptberuflich seit 23 Jahren in der Ersten Hilfe bei den Johannitern und hat sich zusätzlich als freiwilliger Helfer registrieren lassen.
In vier Minuten zum Einsatzort
Alarmiert werden Katretter nur, wenn sie einen Kilometer oder näher am Ort des Notfalls sind. Das passiert automatisch per Smartphone-Benachrichtigung. Jeder Einsatz ist aber freiwillig - wer gerade nicht kann oder will, darf den Einsatz ablehnen.
Im Jahr 2024 haben die Katretter laut dem Landkreis bei fast 100 Wiederbelebungen mitgeholfen. 88 Mal waren die freiwilligen Helfer dabei schneller oder genauso schnell wie der Rettungswagen, hieß es.
Katretter brauchen durchschnittlich vier Minuten zu einem Einsatzort, der Einsatzwagen sieben bis zehn Minuten, berichtete Landrätin Anita Schneider (SPD): "Das sind Minuten, die Leben retten."
- An dieser Stelle befindet sich externer Inhalt, der hier nicht dargestellt werden kann. Hier gelangen Sie zum Original-Beitrag auf hessenschau.de.
Vom Test zum Regelbetrieb
Vor fünf Jahren hat der Landkreis Gießen das System testweise eingeführt, wegen Corona gab es drei Jahre Pause. Jetzt ist klar, der Kreis ist so zufrieden mit seinen Katrettern, dass er sie weiter einsetzen will - aus dem Pilotprojekt wird ein Regelsystem.
Ziel sei es jetzt, noch mehr Ersthelferinnen und -helfer zu gewinnen. Die Ausbildung dazu sei kostenlos, betonte Landrätin Schneider. Und: Es gehe keinesfalls darum, den Fachkräftemangel abzumildern.
Die Zehn-Minuten-Frist vom Notruf bis zum Eintreffen der Rettungskräfte werde weiterhin eingehalten. Diese sogenannte Hilfsfrist ist im hessischen Rettungsdienstgesetz festgeschrieben.
Schlüsselanhänger für Herzdruckmassagen
Ein neuer Anreiz, damit sich noch mehr freiwillige Helfer registrieren, soll jetzt der so genannte CorPatch werden: Der sieht aus wie ein Schlüsselanhänger und soll den Freiwilligen bei Herzdruckmassagen helfen.
Trifft ein Retter oder eine Retterin bei einer leblosen Person ein, klebt er oder sie den Patch auf deren Brust. Der Patch beinhaltet einen Sensor, der sich automatisch mit einer App auf dem Handy des Helfers oder der Helferin verbindet. Während der Herzdruckmassage misst das System Druckfrequenz, Tiefe und Entlastung und gibt dem Ersthelfer über den Handybildschirm wichtige Hinweise.
Rund 100 der CorPatches hat der Landkreis für seine Katretter angeschafft. Das Ganze ist erneut ein Pilotprojekt, das wissenschaftlich begleitet wird vom Evangelischen Krankenhaus in Gießen.
Unsicherheit überwinden kann Leben retten
Auch als Profiretter bekommt Björn Kohlhaussen über ein EKG Hinweise, die Laien sonst nicht haben, sagt er. Die neuen CorPatchen könnten den Helfern Unsicherheiten nehmen. Die zu beseitigen ist wichtig, denn nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand überleben in Deutschland bislang nur rund zehn Prozent der Menschen – oft, weil sich Ersthelferinnen und -helfer keine Herzdruckmassage zutrauen.
Mit dem neuen Schlüsselanhänger kann die Reanimation nach Angaben des Herstellers sogar auch zu Hause geübt werden - ganz einfach, etwa mit einem Kissen.