Uraufführung am Heimathafen Neukölln - Von Solidarität und "Dualidarität"

Der israelische Theaterautor Avishai Milstein legt am Heimathafen Neukölln ein neues bitterböses Mini-Drama über den deutschen Kulturbetrieb vor. Zu "Mini" für den großen Wurf – doch mit viel Komik und Wahrheit. Von Barbara Behrendt
Avishai Milstein sitzt in Israel im Luftschutzbunker. Also: nicht der wahre Avishai Milstein, sondern die Figur in seinem neuen Stück "Dualidarität" – die dem Autor allerdings bis aufs Haar gleicht. Die Sirenen heulen, mit einem großen Knall wird eine Rakete abgeschossen, ein Teil davon landet in Milsteins Wohnzimmer.
Da klingelt sein Handy. Eine Dramaturgin eines deutschen Stadttheaters ist am Apparat und hat, Raketenbeschuss hin oder her, Wichtiges zu besprechen. Sie möchte sein neues Stück aufführen! Oder, halt: nicht "aufführen", eher szenisch lesen. Und auch nicht das ganze Stück, nur eine Szene. Und bitte auf keinen Fall länger als zehn Minuten! Das sind doch wohl großartige Neuigkeiten, oder etwa nicht?
Kritik an deutscher Selbstüberhöhung
Schon in den ersten Minuten steckt der Kern von Milsteins Kritik an der deutschen Selbstüberhöhung. Die Dramaturgin weint bitterlich, als der Autor ihr vom derzeitigen Leid der Menschen in Israel und Gaza erzählt – über sich selbst: "Ich verlieren den Verstand!"
Der Autor (im Stück) ist Kummer aus Deutschland gewohnt und will an seinen Verlag verweisen. Bis die Dramaturgin ihn um einen Gefallen bittet: Er solle doch mal eben in seinen Kontakten nach einem palästinensischen Theaterautor in Gaza schauen, der sich positiv zu Israel äußert. Denn den brauche es natürlich für die szenische Lesung im Theater – ohne palästinensische Stimme kommt auch keine israelische zu Wort. Es brauche Solidarität mit beiden Seiten, also: "Dualidarität".
Bitterkomische Satire
Diese Wortneuschöpfung gibt dem Abend nicht nur seinen Titel, sondern ist die Steilvorlage für die bitterkomische Satire im Anschluss. Avishai Milstein ist bekannt dafür, mit bösem Humor über Deutschlands Blick auf Israel zu schreiben. Auch dieses neue Mini-Drama "Dualidarität", das nun am Heimathafen Neukölln uraufgeführt wird, ist kein Stück über Nahost, sondern eines über Deutschland.
Und der deutsche Kulturbetrieb kriegt sein Fett weg. Denn die Dramaturgin hat nicht nur keinen blassen Schimmer, was in Gaza und in Israel los ist, es interessiert sie auch herzlich wenig. Hauptsache, sie kann mit der Aktion an ihrem Theater Eindruck machen. Hauptsache, Deutschland gibt sich als Wohltäter und Völkerverständiger.
Sind Deutsche wirklich so hohl?
Es wird viel wissend gelacht an diesem Abend, den der Regisseur Benno Plassmann nur mit einem Stuhl und einem Sitzsack auf der Studiobühne im Heimathafen inszeniert. Er konzentriert sich ganz auf das pointierte Telefongespräch der beiden Figuren, gespielt von Anabel Möbius und Ariel Nil Levy.
Wobei es Letzterer komfortabler hat in der Rolle des gebeutelten Autors, der in allem Recht behält. Die Figur der Dramaturgin ist dagegen eine derart hohle Nuss, dass es ein Leichtes ist, sie auf Abstand zu halten – dazu trägt dann auch Möbius' echauffiertes, überhöhtes Spiel bei. Die egoistischen Beweggründe, die Avishai Milstein in seinem Stück beschreibt, sind wahr, doch sie werden wohl kaum in derart dämlicher Art und Weise geäußert. Oder etwa doch? In der Diskussion im Anschluss sagt Milstein, er habe im echten Leben noch viel Schlimmeres erlebt seitens deutscher Dramaturg:innen. Oha.
Der Dynamik des Abends ist es trotzdem wenig zuträglich, dass die souveräne Autoren-Figur auf ein so wenig ebenbürtiges Gegenüber trifft. Genau hier hätte die böse Farce noch spannender werden können: Wo beginnt die deutsche Positionierung dazu wichtiger zu werden als die Menschen im Nahost-Konflikt? Wie umgehen mit dem zunächst einmal redlichen Versuch, "beide Seiten hören" zu wollen? Wie viel Antisemitismus mag allein in der Aussage stecken, eine israelische Stimme nicht allein für sich sprechen lassen zu wollen?
Mangelnde Solidarität – für beide Seiten
Klar, der deutsche Kulturbetrieb tut sich schwer. Seit dem 7. Oktober 2023, dem Terroranschlag der Hamas auf Israel, wird ihm nachgesagt, ein Problem mit Antisemitismus zu haben. Von einem "dröhnenden Schweigen" im gesamten Kulturbetrieb war immer wieder die Rede, es fehle die Solidarität mit jüdischen Menschen. Doch auch Palästinenser:innen beklagen eine mangelnde Solidarität mit dem Leid der Menschen in Gaza. Veranstaltungsboykotte gibt es auf beiden Seiten.
In einer Szene des Stücks spricht die Figur Milstein dann auch von seinem eigenen Leben. Erzählt von den unglaublichen Hürden, vor fünf Jahren mit seinem palästinensischen Schauspieler-Freund in Gaza einen Kinoabend zu organisieren. Und davon, wie dieser Freund nach dem 7. Oktober im Fernsehen gesteht, eine Frau beim Musik-Festival vergewaltigt zu haben. Eine reale Geschichte? Was können Kultur und Kunst überhaupt in puncto Menschlichkeit ausrichten?
Lob beim Publikumsgespräch
All das kann in kurzen 45 Minuten Mini-Drama natürlich nur oberflächlich angerissen werden. Die Ironie der Geschichte: das "Institut für Neue Soziale Plastik", von jüdischen Künstler:innen gegründet, hat das Stück als "Kurzstück" in Auftrag gegeben, zunächst einmal für eine "szenische Lesung" – ganz wie im Mini-Drama dann torpediert. Beim Publikumsgespräch im Anschluss an die Premiere verweist die Dramaturgin und Leiterin des Instituts, Stella Leder, augenzwinkernd auf diese Ironie.
Überhaupt gibt es im Gespräch ausschließlich Lob für den Abend – das hätte man sich in Neukölln mit seiner stark propalästinensischen Bevölkerung auch anders vorstellen können. Gut, dass der Heimathafen nun neben seinem Engagement für palästinensische Geflüchtete auch diesen israelischen Autor im Programm hat. Oder etwa nicht? Da ist sie wieder: die deutsche Freude an der "Dualidarität".
Sendung: rbb24 Inforadio, 29.03.2025, 07.55 Uhr
Nächster Artikel
OVG-Urteil - Nakba-Demo darf nun doch nicht durch Neukölln ziehen
Verfassungsschutz-Affäre - Brandenburger Jusos fordern Lange zum Rücktritt auf
Verkehrsberuhigung - Berliner Senat streicht Mitte alle Gelder für Kiezblocks und verlangt Ende des Projekts
Felder werden abgescannt - Rehkitzrettung per Drohne
Naherholung - Bezirk Berlin-Mitte plant Badestelle in der Spree
Grenzkontrollen bei Guben - Polen verweigert Rücknahme von Asylbewerbern - und fordert Nachweise
Bundespolizei an den Grenzen - Zurück in alte Zeiten – mit neuen Problemen
Interview | Ex-Cottbuser Tim Heike - "Ein Freifahrtschein wird das Spiel für Energie definitiv nicht"
Berliner Holocaust-Überlebende - Margot Friedländer in Berlin-Weißensee beigesetzt
Trauerfeier zum Nachschauen - "Seid Menschen" - Abschied von Margot Friedländer
Potsdam-Mittelmark - Waldbrand östlich von Niemegk ausgebrochen
Gerichtsurteil - Potsdamer Wassergebühren nicht rechtmäßig
Berlin und Brandenburg - Polizei geht gegen Betrügerbande mit antiquarischen Büchern vor
Tödlicher Sturz - 50-Jähriger stirbt bei Fahrradunfall in Märkisch-Oderland
Berlin-Mitte - Massenschlägerei mit 50 Beteiligten in Gesundbrunnen
Tischtennis - Berlins Titelgarantin Xiaona Shan hat noch nicht genug
In eigener Sache - Regelmäßiges Newsupdate des rbb jetzt auch auf TikTok
Start der Badesaison - Behörden überwachen ab jetzt Badestellen in der Region
Kabel bei Bauarbeiten beschädigt - Stromausfall in Neuruppin – auch Uniklinikum betroffen
Berlin-Mitte - 83-Jähriger wird von Motorrad angefahren und stirbt
Fußball-Bundesliga - Rani Khedira verlängert bei Union Berlin
"Dublin-Zentrum" in Brandenburg - Abschiebeeinrichtung für Geflüchtete in Eisenhüttenstadt wenig ausgelastet
Vollsperrung in der Nacht - Schwerer Unfall auf A2 mit einem Schwerverletzten
Konzertkritik | Turbostaat im SO36 - Punk In Moll
Berlin-Friedrichstraße - 22-jährige Schwarzfahrerin würgt und tritt Fahrkartenkontrolleure - Festnahme
Landtag Brandenburg - Todesfall eines 19-Jährigen wird erneut Thema im Rechtsausschuss
Aktionstag - Bündnis "Kita-Kollaps" demonstriert gegen Mängel bei der Kinder-Betreuung
rbb-Auswertung - Was im AfD-Gutachten des Verfassungsschutzes über Berlin steht
Unterschiedliches Echo auf Merz - So reagiert Brandenburg auf die Regierungserklärung des Kanzlers
Bußgelder in Berlin und Brandenburg - So teuer kann Schulschwänzen sein
Pappelflaum - Sieht aus wie Schnee, brennt wie Zunder
Durchsuchung und Festnahme - Gestohlene Bronze-Skulpturen in Berlin sichergestellt
Unruhe im Landesverband - Woidke ruft Brandenburger SPD-Mitglieder per Brief zur Geschlossenheit auf
Interview | Ex-Radrennfahrer Tony Martin - "Das ist ein Lebenszeichen des deutschen Radsports"
Interview | Ibrahim Maza - "Ich kann noch gar nicht richtig realisieren, dass das meine letzten Tage bei Hertha sind"
Univestiät - Frankfurter Viadrina kündigt Reformen wegen sinkender Studierendenzahlen an
Am Kurfürstendamm - Vorschlag für Margot-Friedländer-Platz in Berlin
Kurz vor dem Ruhestand - Woidke trennt sich von langjährigem Regierungssprecher Engels
Pässe und Ausweise - Bürgeramt ohne Termin: Senat zieht positive Bilanz
Ehemalige RAF-Terroristen - Polizei durchsucht Gebäude in Berlin auf der Suche nach Garweg und Staub
Datenleck bei Dienstleister - Hackerangriff: 180.000 BVG-Kundendaten betroffen
Tarifstreit - CFM sagt für Donnerstag geplante Tarifverhandlungen mit Verdi ab
Studie des Umweltbundesamtes - Flughafen BER verursacht erhöhte Konzentration von Ultrafeinstaub-Partikeln
Angespannte Finanzlage - Ostprignitz-Ruppin verhängt Haushaltssperre
Wasserschloss Fürstlich Drehna - Wenn das Schloss für die Anwohner verschwindet
Kürzung - Berliner Senat gibt Projekt für kostenloses Internet auf
Lange Staus - A10 am Dreieck Potsdam aufgrund von Bauarbeiten voll gesperrt
Wochenende in Berlin - Frauenlauf, Straßenfest und Fahrradkorso führen zu umfangreichen Sperrungen
24 Objekte durchsucht - Zollfahndung und Polizei gehen in Berlin gegen Schmugglerbande vor
ChatGPT als Therapeut - Wenn Künstliche Intelligenz die Seele trösten soll
Institut für Sexualwissenschaft - Berlin ehrt Magnus Hirschfeld zum 90. Todestag
Arbeitskampf - Verdi ruft zu Warnstreik im privaten Versicherungsgewerbe in Berlin auf
Arbeitsunfall - Leiche auf Gelände der Bahn in Wittenberge gefunden
Wechsel nach München - Eisbären Berlin können Leistungsträger Fontaine nicht halten
2. Bundesliga - Hertha BSC holt Mittelfeldmann Leon Jensen zurück nach Berlin
Nachwuchsförderung - Wie sich Berlins und Brandenburgs Sportschulen für die Zukunft aufstellen
Schönefeld (Dahme-Spreewald) - Drei Personen bei schwerem Verkehrsunfall verletzt
Konzert | BBNO$ im Huxleys - Zwischen "Fuck You" und "Love You"
Theatertreffen | "Kontakthof - Echoes of '78" - Im Kontakt mit der eigenen Vergangenheit
Betriebsversammlung - Viele Schlösser bleiben am Mittwoch geschlossen
Basketball-Bundesliga - Alba Berlin steht nach Sieg gegen MBC im Playoff-Viertelfinale gegen Ulm
Verzicht auf Forderungen - Jahrelanger Streit um das Hohenzollern-Erbe beigelegt