Gastspiele beim FIND-Festival - Große Themen, kleine Shows

Beim Festival für neue internationale Dramatik an der Schaubühne verhandeln zwei neue Stücke aus Belgien große politische Themen in kleinen intimen Solo-Abenden. Von Barbara Behrendt
Am Eingang darf sich jede:r Zuschauer:in aus zwei Schalen bedienen. In der einen liegen kleine, grüne Erbsen. In der anderen Heftpflaster – viel zu klein für die großen Wunden, die diese autobiografische Arbeit bloßlegt.
"Icirori" heißt die Collage, die die burundisch-belgische Künstlerin Consolate Sipérius an der Berliner Schaubühne beim FIND-Festival für neue internationale Dramatik zeigt. "Icirori" ist Kirundi, eine der Amtssprachen in Burundi in Ostafrika, und bedeutet in etwa: im inneren Spiegel das eigene Leid betrachten, um damit leben zu können. Genau das praktiziert Consolate in dieser bewegenden Performance, die sie selbst erlebt, geschrieben, inszeniert hat – und als Solo auf die Bühne bringt.
Consolate stammt aus Burundi. Als Vierjährige, 1993, hat ihre große Schwester sie drei Tage lang im Wald versteckt, ohne Essen und Trinken, nachdem ihre Eltern im Bürgerkrieg ermordet worden sind. Nach einer Zwischenstation in einem Flüchtlingscamp wurde Consolate mit gefälschten Angaben gegen Geld nach Belgien geflogen, wo sie illegal adoptiert worden ist. Ihre Fluchtgeschichte erzählte sie 2016 schon in Milo Raus "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs" an der Schaubühne. Doch 2020 bekommt sie eine Nachricht über Social Media: "Hallo, ich bin Alice, deine große Schwester."
Illegale Adoption von Burundi nach Belgien
Über Alice erfährt sie erst, aus welchem Dorf sie stammt, und dass es dort Geschwister, Tanten, Onkel, Cousins gibt, bei denen sie hätte aufwachsen können. Ihr Stück erzählt nun bruchstückhaft von der illegalen Adoption, vom Rassismus in Belgien, von ihrer Identitätssuche. Consolate versucht herauszufinden, was das ist: ihr Körper, ihre Vergangenheit, ihre Kultur.
Mit Videos von ihrem ersten Besuch nach 30 Jahren in Burundi, mit Natur-Geräuschen aus ihrer ersten Heimat, mit Briefen, rassistischen Gesprächsfetzen ("wie ein Püppchen aus Schokolade", "Haare wie verbranntes Stroh") bringt sie ihre Collage auf die kleine Bühne. Und lässt dabei eine fast intime Gemeinschaft mit dem Publikum entstehen, das eng um sie herumsitzt. Mit einer Handvoll Erbsen vom heimischen Feld ist Consolate nach Belgien geflogen – eine Handvoll Erbsen streut nun jede:r Zuschauer:in auf die Kleider der Vierjährigen, die Consolate auf der Bühne ausgebreitet hat. Gemeinsam spricht das Publikum die Entschuldigungsworte der belgischen Regierung, die sich Consolate nach dem an ihr begangenen Unrecht wünscht. Belgien selbst hat sie ihr nie gegeben und verweigert anscheinend jedwede Verantwortung.

Hunderte solcher Kinder gab es in den 1990ern
Consolates Geschichte weist über ihr Schicksal hinaus. Hunderte solcher Kinder hat es in den 1990er Jahren gegeben, angeblich "gerettet" aus dem Bürgerkrieg, angeblich alles Waisen ohne weitere Angehörige.
Allerdings wirkt die kurze Collage nur wie ein erstes Kapitel. Vieles bleibt ungesagt, vieles muss man sich zusammenreimen. Im anschließenden Gespräch mit der Künstlerin, das ich nach der Performance suche, fügt sie weitere wichtige Puzzleteile zusammen: Etwa über die Rückkehr in ihr burundisches Dorf als erste Adoptierte. Die Menschen dort hätten nicht glauben können, dass sie tatsächlich am Leben war, erzählt sie – waren die Adoptionsgeschichten doch mehr wie Legenden behandelt worden.
Doch die Kontaktaufnahme mit ihrer Familie ist erst wenige Jahre her – eine intensivere künstlerische Auseinandersetzung kann da natürlich noch folgen. Bislang wirkt die Performance mehr wie eine erste Stoffsammlung statt einer fertigen Produktion.
Un sublime Error: Solo auf Spanisch
Auch der zweite belgische Abend "Un sublime Error" ist ein kleines Solo – was für die berühmte Needcompany, Vorreiter des postdramatischen Theaters, eher ungewöhnlich ist, die oft mit ausladenden Bühnenbildern und großem Ensemble anreist. "Un sublime Error" hat der Needcompany-Kopf Jan Lauwers für den bekannten argentinischen Schauspieler Gonzalo Cunill geschrieben, mit dem er seit 25 Jahren zusammenarbeitet.
Auch hier geht es letztlich um Identität, wenn auch deutlich postdramatisch gebrochener als in "Icirori". Doch mehr noch um die große Frage, was vom Leben bleibt, wofür es sich zu leben lohnt. Und um die Erkenntnis, wie fragil das Leben ist. Dafür ist auf der Bühne eine kunstvolle Architektur aus Kristallglas aufgebaut, die wackelt und irgendwann von einem Freiwilligen aus dem Publikum zum Einsturz gebracht werden muss – während Gonzago von seiner eigenen Beerdigung erzählt, der er beiwohnt. Dabei beobachtet er Alex und Christine, seine beiden ungleichen Freund:innen, mit denen er Zeit seines Lebens eine leidenschaftliche Ménage à Trois geführt hat. Den klischierten Männer- und Frauenbildern dieses Monologs merkt man das Alter sowohl des Autors als auch des Schauspielers deutlich an. Nichtsdestotrotz ein poetischer, kleiner, charmanter Abend mit einem großen Schauspieler und Entertainer auf der Bühne. Aber auch nicht mehr.
Das FIND ist nach wie vor einzigartig
Bis auf Milo Raus effektheischende und brutale Eröffnungsproduktion "Medeas Kinder" sind auch bei dieser Ausgabe des FIND-Festivals wieder viele kleine, interessante Mosaiksteine zu erleben. Über große politische Fragen, die sich im Persönlichen der Bühnenfiguren spiegeln. Die große Entdeckung fehlt bislang zwar noch. Doch es ist ein Glück, diese neuen Theaterstücke aus aller Welt überhaupt (trotz Sparzwang!) in Berlin sehen zu können. Das FIND ist nach wie vor einzigartig in der Hauptstadt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 08.04.2025, 08:30 Uhr
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