Friedrich Merz und Lars Klingbeil
analyse

Start mit Makel So dramatisch verlief Merz' Kanzlerwahl

Stand: 06.05.2025 18:37 Uhr

Dass eine angehende Koalition die Kanzlerwahl zunächst verpatzt, gab es so noch nicht. Stunden der Unsicherheit und Schuldzuweisungen lagen zwischen dem ersten und zweiten Wahlgang von Kanzler Merz.

Von Corinna Emundts, tagesschau.de

Friedrich Merz kennt Niederlagen. Dass er jedoch zum ersten Kanzler der Bundesrepublik wird, der erst im zweiten Wahlgang gewählt wird, hat er sich wohl nicht vorstellen können. Diesen Makel wird er so schnell nicht mehr los - diese Erkenntnis war ihm im Moment der Niederlage ins Gesicht geschrieben.

Es ist 10.06 Uhr, als die neue Bundestagspräsidentin Julia Klöckner mit neutraler Stimmlage die Anzahl der Ja-Stimmen verliest - und den Satz hinterherschiebt: "Damit ist Friedrich Merz zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland nicht gewählt."

So still wie in dem der Moment danach ist es im Plenum selten.

Ein Worst-Case-Szenario

Ernste Gesichter bei Union und SPD. Der Worst Case ist eingetreten. AfD-Fraktionschefin Alice Weidel grinst und geht feixend zu den Hinterbänklern ihrer Fraktion.

Die schwarz-rote Mehrheit war äußerst knapp, das wussten alle Beteiligten. Die Koalition aus SPD und Union holte bei der Bundestagswahl rund 45 Prozent der Stimmen - eine wesentlich schmalere Basis als die 69,4 Prozent der letzten Großen Koalition mit CDU-Kanzlerin Angela Merkel, die dem Geschehen übrigens heute beiwohnte und schnell von der Besuchertribüne aufstand und ging, als die Wahlniederlage ihres ehemaligen Widersachers Merz klar wurde.

Unmut in beiden Parteien

Dem Bundestag gehören 328 Politikerinnen und Politiker von CDU/CSU und SPD an, mindestens 316 von ihnen brauchte Merz für die sogenannte Kanzlermehrheit, um ins Amt gewählt zu werden.

Ein solch hoher Grad an Zustimmung ist bei zwei so unterschiedlichen Parteien alles andere als ein Spaziergang. Denn SPD und Union tun sich, zumindest an ihren Fraktionsrändern, mit dieser Koalition unter Merz schwer, deutlich wurde das auch bei den Jusos und der Jungen Union. Aber auch in der Mitte der CDU hatte es Unmut über Merz' Kehrtwende bei Schuldenbremse und Staatsfinanzen nach der Wahl gegeben.

Die Wahl ist geheim, die Abtrünnigen werden wohl geheim bleiben.

Signal einer wackeligen Mehrheit

Der ein oder andere wollte Merz zum Auftakt vielleicht einen Denkzettel mitgeben. Die Außenwirkung ist aber: Union und SPD schaffen es nicht mal, sich selbst eine Mehrheit zu organisieren - das ist das Signal, das ab 10.06 Uhr in der Welt ist.

Dieses Signal einer äußerst wackeligen Mehrheit, es wird auch über den Tag hinaus als Makel dieser neuen Bundesregierung bleiben: Hat die Koalition wirklich eine stabile Arbeitsgrundlage? Ganz zu schweigen von den internen Vertrauensverlusten, die dieser Vorgang sicher auslöste.

Es wird die Hypothek dieser Koalition bleiben, denn es stehen gerade für diese Koalition strittige Themen an - von Klimaschutzmaßnahmen im Energiesektor bis hin zu "Taurus"-Lieferungen an die Ukraine.

"Einfach schlecht für das Land"

Wenige Minuten nach der Verkündung des ersten Wahlergebnisses ist das Plenum fast leer. Friedrich Merz war mit versteinerter Miene schnell gemeinsam mit seiner Fraktionsspitze verschwunden, sich eilig das Jackett zuknöpfend. Zuvor war der ehemalige Grünen-Chef Omid Nouripour kurz an ihn herangetreten, um ein Wort des Bedauerns zuzuraunen.

Denn auch die Grünen sagen an diesem denkwürdigen Tag, das Land brauche so schnell wie möglich eine stabile Regierung, auch wenn sie den Koalitionsvertrag inhaltlich kritisieren: "Eine gescheiterte Kanzlerwahl ist einfach schlecht für das Land", sagt Nouripour später am Rande des Plenums, er sitzt auch als Vizepräsident im Bundestagspräsidium.

Zustimmung von Grünen und Linke

Es folgen: Stunden der Krisensitzungen, zunächst in den Fraktionen, dann Merz in kleinster Runde, auch mit den Juristen der Fraktion und der Bundestagspräsidentin. Mehrere Stunden werden vergehen, bis man sich sortiert hat und Schwarz-Rot mit Grünen und Linken gesprochen hat, um die Geschäftsordnung zu ändern - hin zu einem schnellen zweiten Wahlgang noch am selben Tag.

Die Wahl war nicht selbstverständlich so schnell zu wiederholen, sie hätte nach Geschäftsordnung auch erst am Freitag stattfinden können. Doch die Negativ-Schlagzeilen bis Freitag, national wie international, während schon am Tag der Deutsche Aktienindex (DAX) reagierte - das wollte man sich sparen.

Linke und Grüne machten mit bei dem Plan. Mit der AfD hatte Schwarz-Rot nicht darüber gesprochen, eine Zweidrittelmehrheit ohne AfD reichte in dem Fall.

Appelle in die Fraktionen

In den Stunden der Unsicherheit nach dem ersten Wahlgang gibt es gegenseitige Schuldzuweisungen. Abgeordnete von Union und SPD treten nach der Wahlschlappe auf der Fraktionsebene des Reichstagsgebäudes vor die Kameras, um zu beteuern, dass jeweils ihre Fraktion geschlossen gewesen sei. Man sei sich der Verantwortung bewusst.

Zum Nachmittag hin, als der zweite Wahlgang startet, werden es geradezu Beschwörungen und Appelle der Spitzen von Schwarz-Rot an jene unbekannten mindestens 18 Abgeordneten von Schwarz-Rot, die im ersten Wahlgang gegen Merz als Kanzler stimmten. Der neue Unionsfraktionschef Jens Spahn rief ins Mikro, er "appelliere an alle, sich der besonderen Verantwortung bewusst zu werden".

Eine bewegende Szene entsteht vor dem zweiten Wahlgang um 15.17 Uhr, als Merz neben CSU-Mann Alexander Dobrindt und Spahn am Unionspult im Plenum steht: SPD-Chefin Saskia Esken schüttelt Merz sekundenlang beide Hände und scheint ihm Glück zu wünschen. Zum Schluss klopft sie ihm auf den Arm mit einer "Wird schon"-Geste. Man spürt die Sorge, Merz und damit womöglich das ganze schwarz-rote Koalitionsprojekt könne noch in letzter Minute scheitern.

Am Ende wirkt das Lächeln des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier deutlich erleichtert, als er Merz gegen kurz vor 17 Uhr die Urkunde überreicht.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 06. Mai 2025 um 17:00 Uhr.