
80 Jahre Weltkriegsgedenken Propaganda statt Erinnerung?
Jedes Jahr wird im brandenburgischen Seelow an die viertägige Schlacht im Zweiten Weltkrieg erinnert. Doch diesmal warnte das Auswärtige Amt davor, dass Russland das Gedenken instrumentalisieren könnte - zu Recht?
Es sind gleich mehrere Fahrzeuge mit Russlands Diplomatenkennzeichen "140", die heute durch die 5.500-Einwohner-Gemeinde unweit der polnischen Grenze fahren. Aus einer schwarzen Mercedes-Limousine steigt Sergej Netschajew, der russische Botschafter aus. Vermutlich wäre das nichts besonderes, denn Netschajew kommt jedes Jahr zum Gedenken an die viertägige Schlacht um die Seelower Höhen - sie gilt als die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden. Doch dieses Jahr ist der Besuch Netschajews ein Politikum.
Grund ist ein Papier aus dem Auswärtigen Amt, eine sogenannte Handlungsempfehlung, die kürzlich an Bund, Länder und Kommunen verschickt wurde. Sie warnt davor, dass Russland die Gedenkfeiern zu 80 Jahre Kriegsende für seine eigenen politischen Ziele im Krieg gegen die Ukraine instrumentalisieren könnte.
Das Auswärtige Amt warnt vor "Desinformation" und "geschichtsrevisionistischer Verfälschung". Russische oder belarusische Vertreter sollten daher nicht zu Gedenkveranstaltungen eingeladen werden. Und falls sie unangekündigt erscheinen würden, dann könnten Einrichtungen "von ihrem Hausrecht Gebrauch machen". Sprich: Russische oder belarusische Vertreter des Platzes verweisen.

An dem stillen Gedenken von Kreis und der Stadt am Ehrenmal in Seelow (Märkisch-Oderland) nahmen nach rbb-Informationen rund 800 Menschen teil.
Netschajew zeigt sich unbeeindruckt
Doch ist das denkbar? Dass der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde den russischen Botschafter aus seiner Gemeinde wirft? Der russische Botschafter ist aller Diskussion zum Trotz nach Seelow gekommen, gegenüber dem ARD-Hauptstadtstudio gibt er sich unbeeindruckt. "Wir sehen, dass es einen großen Bedarf gibt in Deutschland für die Normalisierung der deutsch-russischen Beziehungen", sagt der 71-jährige Netschajew. "Sogar in einer Familie gibt es keine totale Übereinstimmung."
Seit Jahrzehnten ist Netschajew im diplomatischen Dienst, ein sowjetisch erzogener Diplomat, der schon in den 1990er-Jahren viel Zeit in Deutschland verbracht hat. Im Landkreisamt legt man Wert darauf, dass er nicht offiziell eingeladen worden sei. Den öffentlich einsehbaren Veranstaltungshinweis haben sie im Landratsamt aber sehr wohl auch an die russische Botschaft verschickt, der Ortsbürgermeister begrüßt den russischen Botschafter dann auch ganz offiziell. Dass er zum Gedenken gekommen ist, ist für Netschajew normal. "Das entspricht einer langjährigen Tradition in unseren bilateralen Beziehungen", sagt er.
Der russische Botschafter wird also nicht des Platzes verwiesen - genauso wenig wie der Gesandte Botschaftsrat von Belarus in Deutschland, Andrej Schupljak.
Unverständnis bei Politikern
Die Forderung, dass man einen Botschafter des Ortes verweist, sei "absurd", kritisiert der stellvertretende Landrat Friedemann Hanke die Empfehlungen des Auswärtigen Amtes. Das sei eine Frage des gesellschaftlichen Miteinanders. "80 Jahre ist ein runder Jahrestag. Ich kann doch nicht von heute ausgehen und sagen, ich würdige nicht, was damals geschehen ist." Im Übrigen arbeite man bei Fragen der Kriegsgräber sehr eng mit der russischen Botschaft zusammen.
Unterstützung bekommt Hanke auch von Landtagsabgeordneten verschiedener Parteien. Es sei ein Stilles Gedenken und keine Instrumentalisierung von irgendeiner Seite, sagt die SPD-Landtagsabgeordnete Sina Schönbrunn, die ebenfalls vor Ort ist. "Ich kann doch niemanden ausladen, der hier seiner Landsleute gedenken will. Das kann ich nicht nachvollziehen. So macht man keine Diplomatie."
Und der Landtagsabgeordnete Falk Janke von der AfD sagt: "Die Handlungsempfehlung sehe ich als völlig falsch an. Der russische Botschafter hat selbstverständlich das Recht der Gefallenen seines Heimatlandes zu gedenken." Neben Landtagsabgeordneten von vor allem von AfD, BSW und SPD waren keine Vertreter der Landes- oder Bundesregierung vor Ort.

Auf den Seelower Höhen standen sich im April 1945 hunderttausende Soldaten der sowjetischen Roten Armee und der NS-Wehrmacht gegenüber. Am 19. April endeten die Kämpfe mit dem Sieg der sowjetischen Truppen.
Sowjetische Uniformen und russische Schlagerhits
Stattdessen zog das eigentlich "Stille Gedenken" viel Buntes an: Männer in alten sowjetischen Armeeuniformen, eine Gruppe musizierte russische Schlagerhits auf Gitarre, andere trugen die Flaggen sowjetischer Einheiten, die an der Befreiung Berlins beteiligt waren. Vor dem Eingang stand ein Fahrzeug in Polizeifarben, auf dem vorne der Begriff "Mir", russisch für Frieden, prangt - eine politische Botschaft.
"Da waren schon ein paar Freaks dabei", raunt es aus der örtlichen Verwaltung. Offiziell gibt man sich aber diplomatisch: "Wenn wir der Meinung sind, dass einige Personengruppen, die Veranstaltung stören werden, dann werden wir auch vom Hausrecht Gebrauch machen", sagt der Bürgermeister der Stadt Seelow, Robert Nitz, am Morgen. Dazu kommt es nicht.
Ukraine nur am Rande
Über die große Politik, den Krieg in der Ukraine, gibt es offiziell keine Worte. Doch das Thema ist am Rande präsent. Welche Worte er für die Ukraine von hier habe, wird der russische Botschafter gefragt. "Wir kämpfen nicht gegen das ukrainische Volk. Das ist unser Brudervolk", sagt der Botschafter. Aber: Es gebe russische Sicherheitsinteressen und man habe ein Problem mit der jetzigen ukrainischen Regierung.
Die Vertreter der örtlichen deutschen Behörden hätten das Thema Ukraine am liebsten ganz ausgeklammert. "Vor 80 Jahren ist eine Diktatur zu Ende gegangen, eine deutsche Diktatur", erinnert der stellvertretende Landrat Hanke. An eine wichtige Schlacht auf dem Weg dahin erinnere man heute. Was er sich von der Politik wünschen würde? "Dass man erkennt, dass es nicht nur Schwarz-Weiß gibt, nicht nur Gut und Böse, sondern immer Grauschattierungen. Und dass man miteinander spricht, selbst wenn man unterschiedlicher Ansicht ist."