Olaf Scholz beim beantworten einer Frage aus dem Publikum bei einem Bürgerdialog im Altstädtischen Rathaus in Brandenburg.

Zehn Jahre Bürgerdialog Palaver statt Politik

Stand: 13.04.2025 13:11 Uhr

Vor zehn Jahren startete die damalige Bundesregierung einen breit angelegten Bürgerdialog zum Motto "Gut leben in Deutschland". Ähnliche Foren gibt es immer häufiger. Aber gibt es einen praktischen Nutzen?

Den medienwirksamen Auftakt machte die Bundesregierung von Union und SPD im Gasometer in Berlin, einer stillgelegten Industrieanlage. Cool, hip, nah am gesellschaftlichen Puls der Zeit sollte die Location auf das Publikum wirken. Aus dem Gasometer kam damals auch die ARD-Talkshow von Günther Jauch.

"Ich freue mich auf das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber, was gutes Leben für sie bedeutet. Was Menschen wichtig ist, muss Auftrag für unsere Politik sein", sagte die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Begrüßung.

Der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel sekundierte: "Ob gute Arbeit, Gesundheit oder Familie, Freunde und Zusammenhalt: Wir suchen die Debatte darüber, was wirklich zählt. Dafür wollen wir Politik machen."

Angela Merkel und Sigmar Gabriel bei einer Diskussionsrunde im Gasometer in Berlin. (Archivfoto: 13.04.2015)

Angela Merkel und Sigmar Gabriel beim Bürgerdialog im Gasometer in Berlin.

Nur wohlklingende Plattitüden?

Anderthalb Stunden lang ging es dann auf dem Podium um Themen wie "Gesundes Leben, Zusammenhalt in Familie und Gesellschaft, Wirtschaft stärken" oder "Sicher und frei leben". Allgemeinplätze, unkonkret, unverbindlich und damit angenehm für die Regierung.

Nach mehr als 200 Bürgerdialogen, an denen die Kanzlerin und ihr Vize teils auch persönlich teilnahmen, legte die Bundesregierung dann einen Bericht vor, unterteilt in sogenannte zwölf Dimensionen und 46 weitere Indikatoren der Lebensqualität in Deutschland.

Auch ein wissenschaftlicher Beirat hatte sich über das Papier gebeugt. Die Ergebnisse: Die Bürger wünschen sich Chancengleichheit, Zusammenhalt oder die Gleichstellung von Frauen. In der öffentlichen Debatte spielten die von der Koalition angepriesenen Ergebnisse keinerlei Rolle. Also alles nur ein medienwirksames Tamtam mit ein paar wohlklingenden Plattitüden?

"Eine Simulation von Bürgerbeteiligung"

"Die Absichten des Bürgerdialogs waren sicher gut gemeint. Die Öffentlichkeit fordert zunehmend mehr Mitbestimmung. Die Menschen möchten mehr Resonanz. Das hat die damalige Große Koalition erkannt", erinnert sich Claudia Landwehr an das Jahr 2015. Die Professorin forscht am politikwissenschaftlichen Institut der Universität Mainz zu Demokratietheorien.

Positiv sei an dem Format, dass Spitzenpolitiker selbst an den Bürgerforen teilgenommen hätten, so Landwehr. "Problematisch war aber, dass es keine praktischen Folgen auf Gesetzgebungsprozesse gab", ist Landwehrs ernüchterndes Urteil. Am Ende sei die Initiative in der Öffentlichkeit als eine Mischung aus Umfrage und PR-Aktion bewertet worden.

"Es war eher eine Simulation von Bürgerbeteiligung. Das führte zu Enttäuschungen", sagt die Wissenschaftlerin. Teils sei an Wünschen und Botschaften der Bürger aus den Dialogforen von Union und SPD auch nur das herausgepickt worden, was bereits in Partei- oder Regierungsprogramm gestanden habe.

Grundsätzlich hätten viele Politiker das Problem, wirklich zu wissen, was im Alltagsleben der Menschen vor sich gehe, so die Forscherin. "Viele gehen direkt nach der Ausbildung in die Politik, starten Parteikarrieren, bleiben eher unter sich und verlieren so langfristig den Kontakt zur Basis. Immer mehr Menschen reagieren enttäuscht und wenden sich ab", erklärt Landwehr. Die Distanz wachse so weiter.

"Es geht um die große Show"

Hans Mathias Kepplinger hält ebenfalls wenig von öffentlichen Dialogforen mit Spitzenpolitikern. Er war an der Mainzer Universität jahrzehntelang Leiter des Institutes der Publizistik, inzwischen ist er emeritiert.

"Es geht um die große Show nach außen, weniger um die Bürger bei der Veranstaltung. Zudem setzen sich dort oft die rhetorisch Besten durch - nicht diejenigen mit dem besten Argument", erklärt der 82-Jährige. "Die Politiker meiden auch kontroverse Themen, weil sie dann den halben Saal gegen sich haben."  

Auch Kepplinger beobachtet eine wachsende Distanz zwischen Spitzenpolitikern und Bürgern. "Früher gingen viele wegen Überzeugungen in die Parteien. Heute geht es vielen vor allem um die eigene Karriere", analysiert der Publizist.

"Kohl und Brandt wussten, was los war"

"Helmut Kohl wusste sehr genau, was die Menschen umtreibt. Nicht nur am Wochenende hat er bis in die untersten Parteiebenen angerufen und mit einfachen CDU-Mitgliedern gesprochen. Kohl wusste, was an der Basis los war - ebenso wie Willy Brandt in der SPD", erinnert sich Kepplinger. Heute laufe dagegen vieles über die Medien, aber nur noch wenig über die Basis. "Das hat teils zu einer Entfremdung geführt."

Besonders drastisch habe das in den vergangenen Jahren die SPD zu spüren bekommen. Die frühere Volkspartei hat bei der vergangenen Bundestagswahl nur noch 16,4 Prozent bekommen. Viele Stammwähler hätten sich abgewandt.

"Gerade unter Arbeitern und den sogenannten kleinen Angestellten gibt es die größten Sorgen rund um das Thema Migration. Die Ängste wurden an der SPD-Basis auch lange klar ausgesprochen, aber die Parteispitze ignoriert das bis heute. Jetzt ist die AfD die neue Arbeiterpartei", sagt Kepplinger.

Sein Rat an die Parteien in Berlin: "Hört auf eure Basis und setzt die Wünsche und Erwartungen auch um. Die repräsentative Demokratie ist die beste Regierungsform, aber es muss auch eine Repräsentanz stattfinden."

Praxistest im Ahrtal

Nach der verheerenden Flut im Ahrtal vor knapp vier Jahren muss die Region weitgehend neu aufgebaut werden. Die Landesregierung von Rheinland-Pfalz, aber auch Parteien und Behörden laden hier immer wieder zu Bürgerdialogen ein.

"Es gab ein sehr großes Interesse in der Bevölkerung - und auch große Erwartungen", erzählt Andy Neumann, der an einigen Veranstaltungen teilgenommen hat. Der 49-Jährige wohnt in Bad Neuenahr-Ahrweiler, auch sein Haus wurde überflutet. Neumann schrieb zwei Bücher über das Unglück.

"Die Ministerpräsidentin war mehrfach da - ebenso der Innenminister. Aber je höher der politische Rang, desto geringer waren die konkreten Folgen. Das ist wohl das Polit-Geschäft. Am Ende waren das nur Feigenblattveranstaltungen", kritisiert Neumann. "Das hat hier für viel Resignation und Wut gesorgt. Das waren aus meiner Sicht keine echten Dialoge, sondern - man muss das leider so deutlich sagen - Förderprogramme für Politikverdrossenheit." Anders sei das oft mit Verantwortlichen in den Kommunen gewesen.   

"Kein Eigeninteresse haben"

Einer davon: Alfred Sebastian. Er war mehr als zehn Jahre Ortsbürgermeister der Gemeinde Dernau, galt als beliebt und bürgernah. Er hatte auch viele Gespächsrunden in Dernau organisiert. Aus Altersgründen ist er mit 69 Jahren im vergangenen Jahr nicht wieder angetreten.

"Die Flut hat alles verändert. Die Not war groß und auch der Druck, die Menschen einzubinden", erzählt Sebastian. Heutzutage erwarteten die Bürger auch mehr Mitsprache.

"Es gab für mich immer zwei goldene Regeln: Kein Eigeninteresse haben. Das merken die Leute sofort. Und: Was besprochen und versprochen wurde, dann auch machen. Ansonsten ist man unten durch", so Sebastian. Seine letzten beiden Wahlen hatte Sebastian mit mehr als 90 Prozent gewonnen.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 07. Juli 2024 um 17:05 Uhr.