
Unterwegs mit deutschen Helfern Erdoğans unnachgiebiger Kampf gegen Syriens Kurden
Im Nordosten Syriens kämpft die Türkei nach wie vor mit großer Härte gegen kurdische Einheiten. Die türkische Luftwaffe bombardiert weiter und sorgt für neue Flüchtlingsströme. Dabei bekämpfen die Kurden dort islamistische Milizen.
Es kann wohl kaum einen ungünstigeren Ort für Michael Wilk geben, um mit einem Reifenschaden liegen zu bleiben. Der Notarzt aus Wiesbaden ist auf dem Weg in die umkämpfte nordostsyrische Stadt Kobanê, als sich der rechte hintere Reifen mitten auf der Strecke zischend verabschiedet.
Eine Panne nahe einer Frontlinie: Neben dem Asphalt beginnen Minenfelder und von oben droht Beschuss durch türkische Drohnen. "Gegen die Drohnenangriffe gibt es keinen Schutz. Wenn die Türkei jemanden auf dem Kieker hat, bringen die auch einzelne Leute um", konstatiert Wilk aufgrund seiner mehr als zehn Jahre langen Erfahrung als ehrenamtlicher Wiederaufbauhelfer in Nordsyrien.
Wilk will in Kobanê Spenden des Vereins "Städtefreundschaft Frankfurt-Kobanê" abgeben. Nach einer Stunde ist die Reifenpanne behoben und es geht weiter in die Stadt, in der die Terrormiliz Islamischer Staat 2015 ihre erste empfindliche militärische Niederlage einstecken musste.
Ruinen erinnern noch heute an die brutalen Kämpfe von damals, als die kurdisch-dominierten Truppen mit Luft-Unterstützung der USA die radikalen Dschihadisten zurückdrängten.

Vor zehn Jahren drängten kurdische Truppen, unterstützt von den USA, die Terrormiliz Islamischer Staat aus Kobane. Daran erinnert heute ein Denkmal in der Stadt.
Erdoğans Drohungen
Heute fliegt die Türkei Luftangriffe auf die Gegend um Kobanê, nicht als Unterstützung der Kurden, sondern gegen sie. Aus Sicht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellt die Selbstverwaltung in Nordostsyrien eine Bedrohung dar. Die kurdischen Truppen seien Terroristen und verbunden mit der verbotenen türkischen Arbeiterpartei PKK.
Ende 2024 drohte Erdoğan: "Diese separatistischen Kriminellen geben entweder ihre Waffen ab oder sie werden mit ihren Waffen in syrischer Erde begraben."
Auch islamistische Truppen greifen weiter an
Den Worten Erdoğans folgen seit Jahren bereits Taten. Das Rathaus von Kobanê, ganz nahe der Grenze zur Türkei, ist durchlöchert. Bürgermeisterin Amina Waso zeigt Einschüsse in Wänden und Fenstern. "Türkische Soldaten beschießen uns, das macht allen Angst."
Wilks Spenden sind für das Wasserwerk von Kobanê. Es soll im Februar durch türkische Luftangriffe zerstört worden sein. Zozan Khalil, die Leiterin des Wasserwerks, fährt mit hoher Geschwindigkeit Richtung des Flusses Euphrat. Dort befindet sich die Front, wo islamistische Milizen teils mit Unterstützung der Türkei versuchen, auf das kurdisch-dominierte Territorium vorzurücken. Bislang ohne Erfolg.
Als die Gruppe näherkommt, wird klar: Das Wasserwerk wurde völlig zerstört. In der Decke klafft ein Loch. "Alle Maschinen wurden zerstört", klagt Khalil. "200.000 Menschen sind in Kobanê ohne Wasser." Michael Wilk ist fassungslos: "Ich bezeichne das als staatlichen Terror von Seiten der Türkei. Sie verunmöglicht hier das zivile Leben."

Welche Folgen die türkischen Luftangriffe haben, kann Notarzt Michael Wilk in den Ruinen des Wasserkraftwerks von Kobanê sehen.
Ein Verdacht steht im Raum
Plötzlich sind Explosionen zu hören. Wilk und Khalil müssen sich zurückziehen. Im Gehen erklärt sie: "Sie schießen jedes Mal, wenn wir das Werk reparieren wollen. Die Türkei will erreichen, dass wir Kurden wegziehen, weil wir hier nicht mehr leben können."
Weder die türkische Regierung noch der Botschafter in Berlin standen für ein Interview zur Verfügung. Die von der ARD schriftlich eingereichten Fragen wurden nicht beantwortet. Das türkische Verteidigungsministerium erklärt auf seiner Webseite lediglich, man "nehme Terroristen ins Visier". Zwischen Januar und März 2025 seien 523 Terroristen im Nordirak und Nordsyrien "neutralisiert" worden.
Der Bonner Völkerrechtler Professor Matthias Herdegen stellt angesichts zahlreicher dokumentierter Angriffe auf Umspannwerke, Krankenhäuser und Wasserwerke in Nordostsyrien klar: "Das Völkerrecht verbietet jegliche Militäroperation, die sich zielgerichtet gegen Siedlungen, Krankenhäuser, Energieversorgungseinrichtungen und Wasserkraftwerke richtet."
An den Angriffen der Türkei hat sich auch nichts geändert, seitdem PKK-Chef Abdullah Öcalan in einer spektakulären Wende seine Anhänger dazu aufgerufen hat, ihre Waffen niederzulegen und die Auflösung der PKK ankündigte. Der Nahost-Experte Guido Steinberg sieht dadurch keine Bedrohung mehr durch die PKK: "Wir haben es mit einer deutlichen Mäßigung zu tun. Aber allein die Tatsache, dass es sich bei Nordostsyrien um ein von der PKK kontrolliertes Gebilde handelt, sorgt für Panik und Paranoia in Ankara."

Viele Syrier weiter auf der Flucht
Wilks nächster Stopp ist das Rathaus der Stadt Dêrik, wo er Spenden des Berliner Vereins "Städtepartnerschaft Kreuzberg - Dêrik" übergibt. Bürgermeisterin Hasma Hadschi versucht, trotz anhaltender türkischer Angriffe, die Infrastruktur aufrechtzuerhalten. Das Land Berlin und die Organisation Global Care unterstützen sie dabei, Schulen, eine mobile Klinik und Flüchtlingsunterkünfte zu betreiben. Seitdem die Türkei Nordsyrien angreift, sind hunderttausende Syrer bis heute auf der Flucht.
Zum Ende seiner Reise besucht Wilk das Dorf Berxbotan, wo am 17. März 2025 die kurdische Familie Abdo getötet wurde. Die Eltern und sieben ihrer Kinder starben durch Bomben eines Kampfflugzeugs.
Professor Herdegen kritisiert: "Der zielgerichtete Angriff auf zivile Personen oder gar eine ganze Familie ist ein absoluter Zivilisationsbruch." Die Türkei hat diesen Angriff weder bestätigt noch dementiert.

Narin Abdo wird vom kurdischen Halbmond betreut - der Luftangriff auf das Dorf Berxbotan hat sie zur Vollwaise gemacht.
Wilk trifft die einzige Überlebende, die neunjährige Narin Abdo. Sie weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass der Rest ihrer Familie getötet wurde. Die Hilfsorganisation Kurdischer Roter Halbmond kümmert sich um das Mädchen.
Später wird sie die Gräber ihrer Geschwister und Eltern auf dem Friedhof in Kobanê entdecken. Deren Grabsteine stehen dort neben denen, die seinerzeit von IS-Kämpfern getötet wurden.
Während die radikalen Dschihadisten seit Jahren in kurdischen Gefängnissen sitzen, ist die Gefahr durch türkische Luftangriffe bis heute groß - auch für Zivilisten.
Die Reportage "Erdoğan gegen die Kurden" sehen Sie heute um 23.50 Uhr im Ersten - und jetzt schon in der ARD Mediathek.