Evo Morales
exklusiv

Bolivien Ein Ex-Präsident in der Dschungelfestung

Stand: 18.06.2025 05:27 Uhr

Ex-Präsident Morales regierte Bolivien so lange wie kein anderer zuvor. Weil er bei den kommenden Wahlen nicht mehr antreten darf, rief er seine Anhänger zu Protesten auf. Die ARD hat ihn im Dschungel besucht.

Von Anne Herrberg, ARD Rio de Janeiro und Diego Gonzales, beide zzT. La Paz

Es sind Hunderte: Indigene Frauen in Röcken und geflochtenen Zöpfen, Kokabauern in Gummistiefeln und Strickwesten. Sie tragen lange, spitze Holzspeere und Schutzschilder, gebaut aus alten Ölfässern. Und sie alle stehen firm hinter ihrem Anführer. "Wir werden nicht erlauben, dass sie unserem Bruder Evo etwas antun", erklärt die Bäuerin Zenobia Taboada. "Wir stehen hier Wache, bis unser Bruder Evo erneut Präsident wird", fügt der Kokabauer Vicente Choque hinzu. Dann erheben sie ihre Holzlanzen: "Es lebe Evo Morales Aymara", rufen sie, "Viva!"

Evo Morales, erster indigener Präsident Boliviens, regierte das südamerikanische Land von 2006 bis 2019 - so lange wie kein Staatschef vor ihm. Bereits im Februar 2016 verlor er ein Referendum über eine Verfassungsänderung, die ihm eine erneute Präsidentschaftskandidatur ermöglichen sollte. Das "Nein" ignorierte er und setzte seine Kandidatur auf juristischem Wege durch. Die Krise eskalierte bei der Wahl 2019, nachdem Wahlbeobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) von Unregelmäßigkeiten sprachen und Neuwahlen empfahlen.

Morales floh damals ins Ausland. Er und seine Anhänger sprechen bis heute von einem Putsch. Bei den Neuwahlen 2020 holte seine Bewegung zum Sozialismus (MAS) erneut den Sieg.

Aus Weggefährten werden Rivalen

Präsident ist heute Morales' ehemaliger Finanzminister Luis Arce, dem der Ex-Staatschef inzwischen jedoch "Verrat" vorwirft. Die einstigen Weggefährten sind tief zerstritten, die linke MAS-Bewegung gespalten. Bei den kommenden Wahlen am 17. August will Morales noch einmal selbst antreten, auch wenn Boliviens Verfassung das nicht erlaubt und er zahlreiche juristische Probleme hat - darunter Missbrauchsvorwürfe. Ihm droht sogar eine Verhaftung. Doch der Ex-Präsident erklärt, es gebe kein rechtliches Argument, ihn von den Wahlen auszuschließen: "Sie können einzig versuchen, mir das Leben zu nehmen, das wurde ja bereits versucht."

Seit Wochen verschanzt er sich in Lauca Eñe, einem zur Festung umgebauten Dorf, umgeben von Mauern aus Steinen und Autoreifen, Holzwällen, Zäunen und Beobachtungstürmen aus Baumstämmen. Das Ganze erinnert an einen Fantasyfilm, liegt aber im Dschungel des Chapare, im Herzen Boliviens - dort, wo der Kokaanbau blüht, Morales in den 1980er-Jahren seinen Aufstieg vom Gewerkschaftsführer zum Präsidenten begann und heute niemand Fremdes Zutritt hat - außer mit seiner Zustimmung.

Straßenblockaden, Staus, wütende Menschen

Der ARD gelang es exklusiv Kontakt aufzunehmen. Am einem späten Nachmittag Anfang Juni gibt Morales Assistentin die Koordinaten für das Treffen durch. Das Problem: Der Fahrer, der selbst aus der Dschungel-Region kommt, steckt fest. Überall Straßenblockaden, teilt er per Audionachricht mit und schickt Videos. Darauf sind brennende Autoreifen zu sehen, wütende Menschen und kilometerlange Schlangen aus Autos und Lkw.

Ein Demonstrant hält eine Steinschleuder während einer Demonstration in Cochabamba (Bolivien) in der Hand.

Wütende Menschen blockierten wochenlang Straßen im ganzen Land.

Auch das ARD-Team gerät während der Fahrt Anfang Juni immer wieder in Proteste. "Wir sind hier, weil die Regierung die Wirtschaftskrise nicht löst", erklärt etwa Wilder Zapata, ein Anführer der Kokabauern aus Chapare. "Unsere Hausfrauen und Mütter wissen nicht mehr, was sie kochen sollen, weil die Preise für die Lebensmittel so angestiegen sind." Bolivien stehe kurz vor dem Kollaps.

Das zweite große Problem: Es gibt kaum noch Benzin und Diesel. "Jeden Tag stehe ich stundenlang in der Schlange, ich verliere Arbeitszeit, das Geld reicht nicht mehr", erklärt der Fahrer eines Kleinbusses, Aron Vilca, der an einer Tankstelle in Santa Cruz steht, wütend. "Diese Regierung ist ein Desaster, was sollen wir denn tun? Wir leben von dem, was wir jeden Tag verdienen!"

Menschen stehen mit Holzspeeren vor den Toren von Lauca Ene, Bolivien.

Seit Wochen verschanzt sich Evo Morales in Lauca Eñe, einem zur Festung umgebauten Dorf.

Bolivien in der Doppelkrise

Bolivien steckt in einer Doppelkrise: Die linke Bewegung MAS ist tief gespalten und geschwächt. Präsident Arce wirft Morales vor, die Krise politisch zu instrumentalisieren: "Ich wiederhole: Das Ziel dieser Blockaden ist einzig, eine verfassungswidrige Kandidatur von Herrn Morales zu erzwingen."

An der Krise tragen beide Verantwortungen, sagt der Ökonom und einstiger Zentralbankchef Juan Antonio Morales.  Die Misswirtschaft habe bereits in den letzten Jahren von Morales Regierung begonnen: Nach einem Jahrzehnt des Wohlstandes, gestützt auf Boliviens Erdgasboom, seien die Reserven nun erschöpft. Die linkspopulistische Regierung habe Geld in Subventionen, unter anderem für Treibstoff, und in Sozialausgaben gesteckt, aber weder investiert, noch Haushaltsanpassungen vorgenommen.

Morales warnt vor Volksaufstand

Nach langer Fahrtzeit, mit einem mühsam aufgetriebenen Ersatzfahrer, kommt das ARD-Team am geheimen Treffpunkt an - einer verlassenen Tankstelle. Von dort holt ein weißer Pick-Up das Team ab, leitet es im Konvoi an meterhohen Straßenblockaden vorbei eskortiert von Morales indigener Garde, in die Dschungelfestung: der Zentrale der Kokabauern. 

Dort, in Gebäude des Gewerkschaftsradios, empfängt uns der Ex-Präsident. In Pantoffeln und T-Shirt, vor der Nationalflagge Boliviens und einem Portrait, das ihn mit Hugo Chávez und Fidel Castro zeigt. Morales spricht im Interview mit der ARD von sich selbst in der dritten Person. Nach wie vor klammert er sich an die Vergangenheit, sieht sich als Opfer politischer Verfolgung.

Evo war der einzige Präsident, der 14 Jahre an der Macht war. Damals fehlte es an nichts - nicht an Essen, nicht an Kraftstoff, unsere Währung war stark.
Evo Morales

Doch "der Imperialismus, die Regierung und die Rechte" wollten verhindern, dass ein Indigener das Land befreie. Sie wollten zurück in einen "kolonialen Staat".

Dass er bei den bevorstehenden Wahlen nicht antreten darf, sieht Morales als Angriff auf die Demokratie. Man habe der Mehrheit den Kandidaten genommen, sagt er und hält eine angeblich aktuelle Umfrage hoch, wonach er mehr als 40 Prozent der Wählerstimme bekäme. Laut dem Faktencheckportal Chequeado ist diese allerdings falsch.

Unbestritten ist, dass der Ex-Präsident zwar an Popularität eingebüßt hat, nach wie vor jedoch großen Rückhalt genießt, vor allem bei der Landbevölkerung. Im Interview mit der ARD warnte er nun vor einem Volksaufstand: "Ich habe Angst, dass das Volk sich erhebt." Einst habe man einen bewaffneten Kampf vermieden - als dem Volk die Möglichkeit der Wahlen gegeben worden sei. "Aber jetzt zwingen sie das Volk zum Aufstand", sagt Morales mit einem Seitenhieb auf den derzeitigen Staatschef Arce.

Blockaden ausgesetzt

In den Tagen nach dem Interview intensivieren sich die Proteste und Blockaden, im ganzen Land kommt es zu Zusammenstößen und Versorgungsengpässen. Die Regierung spricht von wirtschaftlichen Verlusten in Milliardenhöhe und leitet Ermittlungen gegen Morales wegen Terrorismus ein. Dazu schickte sie Polizei und das Militär auf die Straßen. Bei Zusammenstößen mit Protestierenden wurden laut Medienberichten sechs Menschen getötet, darunter vier Polizisten. Erst am vergangenen Sonntag setze das Bündnis hinter Morales die Blockaden aus "humanitären Gründen" aus. Bis zur Präsidentschaftswahl Mitte August sind es noch zwei Monate.